Ich kriege gar nicht richtig mit, wie sich Dante verabschiedet. Aber dann ist er plötzlich weg und eine ungreifbare Traurigkeit schwappt durch meinen Körper. Irgendwie ist mir schwindelig und vielleicht ein bisschen übel.
Plötzlich wird mir klar, dass ich hier ganz alleine mit dem Doc im Flur stehe, hunderte Kilometer entfernt von allem und jeden, den ich kenne. Der Atem verfängt sich in meiner Brust und der abrupte Sauerstoffmangel verursacht mir Kopfschmerzen. In den vergangenen Monaten habe ich das viel zu oft erlebt. Normalerweise merkt das keiner, weil jeder mit sich selbst zu beschäftigt ist. Nur einmal - das letzte Mal - hat es jemand gemerkt. Ich glaube, das war der ausschlaggebende Moment für meine Eltern, mich hierher abzuschieben.
»Lawrence?«, höre ich Phyos sanfte Stimme wie aus weiter Ferne. Die Welt wirkt wie gedimmt. Irgendwie dunkler und leiser, als sie sein sollte.
»Ganz ruhig. Versuch einfach nur zu Atem. Du kannst das.« Was? Atmen? Mein Körper weiß nicht mehr wie das geht. Ich versuche verzweifelt mich daran zu erinnern aber je mehr ich es versuche, um so mehr Schmerzen meine Lungen und umso weniger Sauerstoff kommt in meinem Gehirn an. Ich blinzle heftig und flehe stumm, die Welt möge aufhören, in dieser nebligen Finstern zu verschwinden. Ich glaube, ich verliere jeden Moment das Bewusstsein. Wieder.
Aber Doc Phyo ist da und irgendwie schaffen es seine magischen Beschwörungen zu mir durch. Er wiederholt immer wieder, ich solle mich nur auf meine Atmung konzentrieren und dann er zählt er, um mir einen Rhythmus vorzugeben und irgendwie ... funktioniert es?
»Gut so. Siehst du, du schaffst das.«, ermutigt mich der Doc.
Allmählich dreht die Welt wieder auf. Der dunkle Nebel, der meine Sicht verschleiert hat, zieht sich zurück und das plötzliche Licht sticht mir in den Augen. Ich schließe sie und versuche mich komplett auf die Stimme des Docs zu konzentrieren und langsam ein- und auszuatmen.
Ohne, dass ich es gemerkt habe, hat mich der Doc zu einer kleinen Sitzgruppe weiter hinten im Flur gebracht, direkt neben der alten Holztreppe, deren Stufen von hunderten, vielleicht tausenden Füßen abgenutzt und glatt sind.
Die Sitzgruppe besteht aus zwei schuddeligen Sitzsäcken und einer kleinen, knautschigen Couch. Ich spüre das weiche Polster unter mir und streiche unwillkürlich mit der Hand über samtige Struktur. Laney hätte diese Couch geliebt.
Was eben passiert ist, ist mir unangenehm. Ich weiß nicht mal warum. Es ist ja nicht so, als wäre nicht ohnehin schon in einer Irrenanstalt gelandet. Trotzdem halte ich den Blick nach unten gerichtet. Ich will Phyos Blick nicht sehen. Ich weiß nicht was schlimmer wäre, berufliche Neutralität - oder Mitleid.
»Geht es wieder?«, erkundigt er sich. Sein Tonfall lässt mich beinahe aufsehen. Es scheingt etwas Nachdenkliches mit, das ich nicht so ganz einordnen kann.
Nach ein paar Sekunden zucke ich schließlich mit den Schultern. Es könnte schlimmer sein, sage ich mir selbst. Es könnte alles so verdammt viel schlimmer sein.
☆☆☆☆☆
Die Schlafzimmer der Patienten - Innsassen - von Sandywoods Manor sind ersten Stock der Villa. Vom oberen Ende der Treppe geht ein Flur in beide Richtungen ab, aber hinter der Treppe liegen nur Badezimmer, ein kleines Büro und der Zugang zu den oberen Stockwerken. Der Flurbereich, der geradeaus vor uns liegt, endet in einer breiten Fenstertür, die anscheinend auf einen Balkon hinausführt. Zu beiden Seiten des Flurs gehen schön symmetrisch gespiegelt jeweils drei Zimmer ab. Zwei davon sind mit je zwei Betten ausgestattet, der rest sind Einzelzimmer. Hier sind grundsätzlich alle Betten belegt, die Warteliste für einen Therapieplatz hier ist ewig lang. Irgendwer, ich weiß nicht mehr wer, hat mir gesagt, ich habe Glück, so schnell meinen Platz bekommen zu haben. Das ist schlichtweg gelogen. Es war kein Glück und wenn ich überhaupt etwas dazu fühlen würde, dann am ehesten Schuld, weil ich jemand anderem seinen Platz weg nehme. Vielleicht jemandem, der suizidgefährdet ist. Oder jemandem, der jeden Moment durchdrehen und Amok laufen und seine Mitschüler abstechen könnte. Wahrscheinlich sollte ich solche Sachen gar nicht erst denken.
Die meisten der Zimmertüren stehen offen. Der Doc erklärt im Gehen, das sei hier eine feste Regel, aus Sicherheitsgründen.
Die Zimmer hinter den Türen könnten unterschiedlicher nicht sein, dabei sind sie im Grunde identische Rechtecke mit Bett, Nachtkästchen, Schrank und Schreibtisch. Die Doppelzimmer sind größer und logischerweise doppelt ausgestattet, aber auch sie sind identisch. Es sind die ersten Zimmer, die nach der Treppe rechts und links vom Gang abgehen. Eigentlich will ich gar nicht gucken. Ich will den Anderen - meinen Mitpatienten, sollte ich sie jetzt wohl nennen - nicht das Gefühl geben, Tiere im Zoo zu sein und begafft zu werden. Und ich will selber auch nicht angestarrt werden.
Aber dann bin ich doch neugierig, ein winziges Bisschen zumindest. Abgesehen davon hat Doc Phyo offensichtlich beschlossen, den Weg zu meinem Zimmer gleich als Vorstellrunde zu missbrauchen.
Das Doppelzimmer links beherbergt zwei Mädchen. Die eine hat glitzernde Augen, himmelblau gefärbte Haare und den Körper eines Vogue-Models. Sie ist hübsch, ganz objektiv gesehen, aber ihre Ausstrahlung ist so warm und offen, dass sie mich mehr an eine große Schwester erinnert, als an irgendwas sonst. Sie kommt an die Zimmertür und lächelt mich mit einem Sonnenlächeln an, das mich irgendwie überfordert. Ich bin noch nicht bereit für Sozialkontakt. In meinem Kopf spielen die Gedanken Ping-Pong und springen Trampolin. Ich bekomme nicht mit, was der Doc sagt, und auch nicht, was das Mädchen mit den blauen Haaren sagt. Ihre Zimmergenossin lässt sich nicht blicken. Sie ist lediglich zwei Hände, die ein Buch umklammern, und Beine in purpurnen Leggins mit chinesischem Drachenmuster.
Die Bewohnerinnen des gegenüberliegenden Zimmers stellen sich als zierliche Latina mit gebleichten Haaren und eine muskulösen Schönheit mit schwarzem Pferdeschwanz und Brille heraus. Die mit der Brille steht im Türrahmen funkelt mich finster an, was mich ein bisschen an Laney erinnert. Nur ein klitzekleines Bisschen. Latina hüpft durch den Raum und boxt ihre Zimmergenossin in die Seite, damit sie ihr Platz macht und sie mich hemmungslos anglotzen kann. Sie hat etwas herausforderndes an sich, als würde sie sich gern, nur so zum Spaß, mit mir streiten wollen. Ich schnappe ein paar Unterhaltungsfetzen auf, aus denen ich schließe, dass die beiden Thalia und Leto heißen, aber es interessiert mich nicht genug, um richtig zuzuhören. Obwohl es wahrscheinlich lustig ist, dass beide einen Namen aus der griechichen Mythologie haben. Vielleicht fände ich es witzig, wenn ich noch so etwas wie emotionales Empfinden hätte.
Die nächste Tür auf dieser Flurseite öffnet sich zu einem Raum, der nur noch entfernt an ein Zimmer erinnert. Das Bettzeug liegt mitsamt aller möglichen und unmöglichen Gegenstände auf dem Boden verstreut, und inmitten des Chaos sitzt ein Junge mit verstrubbelten schwarzen Haaren und krakelt fröhlich summend auf einem abnorm großen Blatt Papier herum. Ich kann beim besten Will nicht erkennen, was zum Henker er da malt.
Dr. Phyo neben mir seufzt. »Raffaell. Kannst du wenigstens noch dein Bett vor der Nachtruhe aufräumen?«
Der Junge - Raffaell, nehme ich an - blickt auf, sieht mich und springt auf, wobei er es irgendwie schafft, seine Stifte in alle Richtungen fliegen zu lassen. Wie ein aufgedrehter Welpe schießt er auf uns zu.
»Ich bin Raffaell!«, grinst er mich an. »Und du?«
Ich sage nichts. Ich glaube, Raffaell ist schon okay, aber der Tag war zu lang und ich bin erschöpft von allem, was ... einfach von allem. Ich habe einfach nicht die Nerven für seine überdrehte Fröhlichkeit.
»Das ist Lawrence.«, antwortet Phyo an meiner statt. »Er wird für eine Weile bei uns bleiben.«
Ein hochgewachsenes Mädchen in Cowboystiefeln und Flanellhemd tritt aus dem Zimmer neben Raffaels. »Mein Beileid.«, sagt sie zu mir und dann zu Raffell gewandt: »Räum auf, du Chaot.«
Phyo zieht zwar eine Augenbraue hoch, sagt aber nichts dazu. Raffaell streckt dem Mädchen die Zunge raus, aber sie geht unbeirrt an uns vorbei nach hinten zum Badezimmer.
»... Gut, das ist Enny.«, erklärt der Doc nach einem Augenblick und geht zurück auf die linke Flurseite. Die mittlere Tür ist geschlossen. Der Doc seufzt wieder. Tiefer und länger, als bei Raffaell. Zum ersten Mal wirkt er auf mich müde, vielleicht sogar ein bisschen ausgelaugt. Er macht den Eindruck, als versuche er sich innerlich auf etwas vorzubereiten.
Sein Anklopfen wirkt dagegen beinahe unpassend zart. Er klopft ganz sanft mit den Knöcheln gegen das Holz, dass nur ein leises tok-tok-tok zu hören ist. Seine Stimme jedoch ist fest und trotz ihrer Milde hat sie etwas Bestimmtes, regelrecht Autoritäres an sich, dem man kaum widersprechen kann.
»Mach bitte die Tür auf, Kuri!«
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Kollateralschaden
Genç Kurgu「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...