»Es tut so weh.«, flüsterte Laney, die Stimme ganz verschwommen von den Medikamenten und Schmerzen.
Ich schluckte und versuchte, mich auf meine Atmung zu konzentriere. Ich musste stark sein, für Laney. Es war sowieso schwer genug für sie.
»Ich weiß«, brachte ich mit Mühe heraus. Sie sah so zerbrechlich aus. So blass. So schmal. Mehr tot als lebendig.
Wir wussten längst, dass es kein Hoffnung mehr gab. Laney war zu einer Gleichung ohne Lösung geworden. Es gab kein magisches X als Antwort. Die moderne Medizin hatte letztlich dich versagt.
Meine Schwester würde sterben. Sie würde sterben und es war mehr eine Frage von Tagen als von Wochen.
»Law?«
Ich schreckte zusammen. Sie hatte so ruhig geatmet, dass ich angenommen hatte, dass sie eingeschlafen war. Der Unterschied war mittlerweile fast unmöglich zu erkennen, weil sie kaum noch die Augen öffnete.
»Hm?«, brachte ich zustande.
Ein Teil von mir wünschte sich, dass sie in einen schönen Traum fliehen konnte, aus dem sie schlicht nicht mehr aufwachen würde. Sie hatte es verdient. Einen friedlichen letzten Moment.
Der Hauch eines Lächelns spielt um ihre rissigen, blutleeren Lippen, sagte aber nichts mehr.
Ich wagte es nicht, aufzustehen und sie alleine zu lassen.
Ich saß immer noch unbewegt neben ihr auf dem grässlichen Krankenhausbett und hielt ihre durchscheinende Hand, als Mama kam. Das hieß wohl, dass ich eigentlich schon längst daheim in meinem eigenen Bett liegen und schlafen sollte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich überhaupt das letzte Mal geschlafen hatte.
Unter normaleren Umständen hätte mich vermutlich auch irgendein Pfleger irgendwann rausgeschmissen, aber weil ich keinen Ärger machte und meine Eltern beide zum elitären Club an super-wichtigen Ärzten gehören und vermutlich weil alle wussten, dass Laneys Zeit praktisch schon vorbei war, ließ man mich einfach bei ihr bleiben. Ich Glückspilz.
Mama streichelte mir seufzend durch die Haare, ehe sie sich über meine schlafende Schwester beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Dann ließ sie sich erschöpft auf den Plastikstuhl neben dem Bett sinken.
Meine Brille rutschte mir ein Stückchen über den Nasenrücken, und ich schob sie zurück an ihren Platz. In letzter Zeit schien sie ständig zu rutschen. Sie nervte mich auch ohne dieses ständige Rutschen, aber ich wagte es nicht, ohne meine fragwürdige Sehhilfe bei Laney zu sein. Meine Schwester war ohnehin schon ein durchscheinender Geist. Ich wollte nicht, dass sie für mich auch noch verschwommene Konturen bekam.
Mamas müder Blick glitt zu Laneys und meiner verschränkter Hände. Ihr Lächeln war traurig. Sie schien sagen zu wollen, dass ich loslassen müsse. Dass es nichts mehr gan, das ich tun konnte. Der Teil in ihr, der durch und durch die geniale Ärztin war, hatte schon lange verstanden und akzeptiert, dass Laney so gut wie verschwunden war. Der Teil, der einfach nur Mutter eines im Sterben liegenden Kindes war, war verzweifelt und hilflos und traurig, das wusste ich. Manchmal hörte ich Nachts ihr verzweifeltes, herzzerreißendes Schluchzen und dann Papas halbherzige Versuche, sie zu beruhigen, obwohl er am liebsten mit geheult hätte. Ich zweifle die Gefühle meiner Eltern nicht an. Ich bin auch nicht wirklich sauer, dass sie so wenig Zeit haben. Letztlich glaube ich sogar, dass es ihnen mehr ausmacht als mir, und während Laney mit jedem weiteren Tag dem Tod immer näher kam, schienen sie jede Sekunde zu bereuen, die sie nicht da waren und in all den Jahren nicht dagewesen waren.
Behutsam löste Mama meine Hand von der meiner Schwester und ersetzte sie mit ihrer eigenen. Ihre Haut war kühl vom Desinfektionsmittel.
Laney stöhnte leise im Schlaf. Ob vor Schmerzen oder aus Protest über das plötzliche Fehlen meiner Wärme konnte ich nicht sagen.
»Gå hjem, kjærester.«, sagte sie leise auf norwegisch. Geh nach Hause, Liebling. Dann fuhr sie auf Deutsch fort. »Du brauchst auch deinen Schlaf.«
Ich überlegte, ihr in ihrer Muttersprache zu antworten, ließ es dann aber bleiben. Mein Norwegisch ist schrecklich. Jedes Mal, wenn wir Mamas Eltern besucht hatten, hatte ich für die meiste Zeit Laney das Reden überlassen - oder Dante, wenn der mal ausnahmsweise dabei war. Ich glaube, Bestefar macht das immer ein bisschen traurig. Dass sein eigener Enkel nicht mal mit ihm reden kann. Schließlich war sein einziges Kind nur fürs Studium nach Deutschland gegangen, und hätte dann eigentlich nach Norwegen zurückkehren sollen. Aber Mama war in Deutschland geblieben, der Liebe wegen, und dann waren da auf einmal Damian und Dante und das Leben. Als ich dann kam, war das eigentlich ein Unfall. Ein drittes Kind zu bekommen, war sowohl ein finanzielles als auch ein berufliches Risiko. Aber das Universum schien es gnädig zu meinen. Paps bekam eine gute Stelle mit Aufstiegschancen in seiner Heimatstadt angeboten und Mama hat die Möglichkeit, sich einem renommierten medizinischen Forschert eam anzuschließen. Sie zogen zu Omi und ihrem dritten Mann auf den Hof, etwas außerhalb der Stadt, wo genug Platz für alle war und jemand auf meine Brüder aufpassen konnte, wenn meine Eltern Arbeiten mussten.
Vielleicht hatten sie ihr Glück ausgereizt. Oder einen Igel auf dem Heimweg überfahren. Was es auch war, gerade als das Leben für meine Eltern so viel Aufwind bekommen hatte, brach dieses hübsche Idyll Stück für Stück auseinander.
Die Hühner erwischte es zuerst. Nach und nach starben sie weg, fielen einfach tot um, wie die Fliegen. Keiner wusste, was los war. Man vermutete ein Krankheit, irgendein Virus oder so was, das die Tiere dahinraffte. Damian und Dante durften nicht mehr frei auf dem Hof spielen. Alle Tiere und Gehege wurden untersucht. Es stellte sich schnell heraus, dass den Hühnern Rattengift untergejubelt worden war. Weil kein Schuldiger gefunden werden konnte, tat man es als dummen Streich irgendwelcher krawallfreudiger Jugendlicher ab, die sich über die Folgen ihres Handelns keine Gedanken machten.
Das nächste Opfer war das Mädchen vom Nachbarhof. Ihrer Mutter zufolge war Damian beim Spielen ausgerastet und hatte dem armen Mädchen einen ungewollten Haarschnitt verpasst. Die Nachbarin sagte meiner Mutter, er habe eine bösartige Aura.
Da hatte sie längst schon den Verdacht, dass es etwas mit ihrem Erstgeborenen nicht stimmte. Ständig fing er wie aus heiterem Himmel an zu schreien und um sich zu schlagen. Dante meinte mal, Damian hätte mehr als einmal mit voller Absicht sein Geschirr vom Tisch geschoben und dann glücklich auf die Scherben gegrinst.
Mama und Paps begannen, ihn von einem Kinderarzt zum nächsten zu schleifen, bis sie irgendwann auf einen Kinderpsychologen verwiesen wurden. Der meinte nur, Damian sei eifersüchtig, weil sich angeblich alles nur um das ungeborene Geschwisterkind drehen würde. Dabei wurde er von Omi vergöttert und Paps schwört, dass er immer schon irgendwas boshaftes an sich hatte. Und ehrlich gesagt, wenn einer Anlass zur Eifersucht gehabt hätte, dann wohl Dante.
Sie versuchten, eine zweite und eine dritte und irgendwann eine elfte Meinung einzuholen, aber keiner dieser tollen Psychologen wollte Damian auch nur ernsthaft untersuchen. Immer hieß es nur, dass sei ganz normale Eifersucht unter Geschwistern.
Der ganze Stress, den meine Eltern hatten, führte dazu, dass ich zu früh geboren wurde, mit miserablen Lungen und einem abnormal schlechten Imunsystem. Mama behauptet trotzdem, mein kleines Babygesicht sei wie eine persönliche Sonne für sie gewesen. Ein Hoffnungsschimmer. Ich bringe es nie über mich ihr zu sagen, dass ich in meinen ersten vier Lebensjahren ungefähr 30 Mal fast an irgendwelchen kleinlichen Infekten krepiert wäre. Sie mussten mich so oft in die Notaufnahme bringen, dass sie mir da praktisch ein Zimmer hätten einmieten können.
Jedenfalls folgte Laney dann als Wunschkind nach. In ihrer Verzweiflung hatten meine Eltern Damian in einem Internat angemeldet, dass ein psychologisch betreutes Programm für verhaltensauffälligen Kinder hat. Mama sagte mal, sie hatte Angst, er würde mir oder Laney etwas antun. Für Dante war er nie eine Gefahr gewesen, aber sie vertraute ihm nicht, was meine Schwester und mich betraf. Ich glaube, da hatte sie schon den Verdacht gehabt, dass er hinter der Sache mit den Hühnern steckte.
Dante dagegen war ein Vorzeigebruder. Der reinste Tollpatsch zwar, aber obwohl er sich selbst dabei immer jede Menge der merkwürdigsten Blessuren zuzog, kümmerte er sich liebevoll um Laney und mich. Einmal, da war ich glaube ich fünf oder so, hat er es geschafft, die halbe Küche in Brand zu setzen, und sich selbst dabei die Augenbrauen versenkt und die Hände so schlimm verbrannt, dass die ganze Innenfläche mit ekelhaften Blasen überzogen war, aber weder Laney noch ich hatten auch nur einen Rußfleck.
Problematisch waren die Schulferien. Wann immer Damian nach Hause kam, geschahen seltsame Dinge. Der Kühlschrank war voller Regenwürmer, die Katze wurde in der Waschmaschine eingesperrt, der Spiegel in der Halle lag in Scherben zersplittert auf dem Boden.
Das Internat schickte in immer kürzeren Abständen Briefe, nach deren Lektüre Mama stundenlang in ihrem Zimmer weinte, und Paps für Tage zerstreut und gereizt war.
Als wir in die Stadt zogen, näher zum Krankenhaus und dem Forschungsgelände, wurde es nur schlimmer. Mama hatte vorher schon wieder angefangen, ihre ursprüngliche Position als Ärztin wieder aufzunehmen und war von der theoretischen in die praktische Forschung gewechselt. Paps stand kurz davor, eine wichtige Stelle zu übernehmen. Dante war kaum zu Hause, sein duales Studium war anspruchsvoll und wenn er nicht lernte, hing er mit seinen Kommilitonen ab.
Damian wurde aus der zweiten Ausbildung rausgeschmissen und zog in eins der Gästezimmer. Jedes Mal, wenn er mich ansah, hatte ich das Gefühl, er wolle mich sezieren. Einmal wachte ich nachts auf, weil ich keine Luft mehr bekam. Ich sah nur Damians diabolisches, kaltherzig Grinsen über mir, während er mir beide Hände über Mund und Nase gelegt hatte und mich mit all seiner Kraft in die Kissen drückte. Und dann Dantes verschlafenes »Was machst du da?«, dass mich ruckartig von Damian befreite. Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, bevor er sich gelassen zu Dante umdrehte. Dante stand argwöhnisch in der Tür, das einfallende Flurlicht zeichnete seinen Schatten überlang in den Raum.
»Wollte nur mal meinem Brüderchen hallo sagen.«, grinste Damian zurück, emotionslos und kalt. Ich hatte eine Scheißangst vor ihm. Ich wollte Dante sagen, was gerade passiert war, aber Damian machte mir zu viel Angst, er war zu nah.
Seit dieser Nacht sperre ich meine Zimmertür immer ab. Das gab einen Riesenstreit mit Paps. Den Schlüssel hat ich heimlich aus dem Zimmer meiner Eltern geholt. Sie wollen nicht, dass wir dir Türen absperren. Vor allem ich nicht.
Eine Weile hatte ich geglaubt, Laney wäre sicher vor Damian. Anders, als meine Eltern befürchtet hatten, schien im die Vorstellung einer kleinen Schwester zu gefallen und er betete sie regelrecht an. Mit anderen Worten, er war besessen von ihr. Er tapezierte das Gästezimmer, in dem er schlief mit Fotos von ihr und genoss es, mit ihren Haaren zu spielen. Sie war sein größter Schatz.
Laney fand ihn gruselig, aber im Grunde waren wir alle froh, dass er augenscheinlich nicht gefährlich für sie war. Und überhaupt - es galt nur, ein paar Wochen zu überbrücken. Ein paar Wochen, bis alle Anträge durchwaren und er die Hilfe bekommen würde, die sein psychopathisches Gehirn brauchte.
Ich hätte es besser wissen müssen. Im Nachhinen betrachtet, hätte ich wissen müssen, dass er für Laney vielleicht am gefährlichsten war.
Ich wusste, was sie hier tat. Sie hätte noch ein bisschen mehr Leben vor sich gehabt, wenn sie gewollt hätte. Wenn sie die tapfere Kriegerin im Kampf gegen die Leukämie gewesen wäre, als die man sie später darstellen würde. Sie hatte aufgegeben. Sie hatte den Ausweg, den ihr die Krankheit gab, dankend angenommen.
Ich wusste genau, wann sie sterben würde.
In vier Tagen war Damians Geburtstag. In vier Tagen würde meine Schwester sterben. Es war der einzige Trumph, der ihr geblieben war.
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Kollateralschaden
Novela Juvenil「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...