Heimat

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- Ich spüre eine große, warme Hand, die sich federleicht und zögerlich um mein Handgelenk legt. Eine überraschende Ruhe breitet sich von der Stelle durch mich aus, von der die Wärme durch den Stoff des Sweatshirts dringt. Ich sehe auf - wortwörtlich auf, denn Kuri steht mit einem Mal so dicht neben mir, dass ich den Kopf recken muss, um seine Gesicht, also seine Augen, sehen zu können.
Hinter ihnen liegt eine ganze Welt, die in allen Farben des Regenbogens schimmert. Schmerz und Liebe, Angst, Hass, Sorge, Glück - da ist so viel, so überwältigend viel, dass es mir den Atem raubt. Er scheint schon alles gesehen, alles gefühlt, alles gelebt zu haben. Er ist so viel mehr als ein Leben bieten kann. In die eine und in die andere Richtung. Es ist unmöglich, dass er dabei so heil und vollkommen und mit dieser stoischen Ruhe vor mir stehen kann. Wo sind die Risse? Die Narben, der glühende Zorn?
»Was ist los?«, höre ich ihn sagen und kann die gedämpfte Stimme erst nicht zuordnen, weil auch ihr seine defensiven Mauern fehlen. Stattdessen klingt er ... unsicher. Unsicher und seltsam verletzlich. Das überrascht mich beinahe noch mehr, als seine Berührung.
Ich kann nur mechanisch den Kopf schütteln und ihn anstarren. Dieser Junge ist mir ein einziges Rätsel, das mit jeder Sekunde nur komplizierter und unlösbarer wird. Trotzdem breitet sich in mir die Gewissheit aus, dass er wohl einen starken Grund hat, all das, alles, was er erlebt hat, und alles, was er noch durchmachen muss, zu ertragen. Vielleicht Freunde. Vielleicht Familie. Vielleicht ein Traum. Was es auch ist, ich hoffe, er verliert es nicht.
Hinter uns vernehme ich leise Schritte und dann eine zarte Mädchenstimme. Ich glaube, sie gehört zu der mit den blauen Haaren, Vivi?
»Kuri? Ist bei euch irgendwas? Soll ich Ray holen?« Sie klingt ernsthaft besorgt und irgendwie vorsichtig, als spreche sie mit einem wilden Tier, von dem sie erwarte, bei einem Falschen Mucks gebissen zu werden. Ich habe keine Ahnung, wer zur Hölle jetzt Ray sein soll und es ist mir auch egal. Die scheißfreundliche Art des Mädchens ist mir auch egal. Wenn überhaupt, macht sie mich wütend, denn noch während sie spricht kann ich sehen, wie die unerbittlichen Stahlwälle hinter Kuris Augen wieder hochfahren und die fantastische, gleichsam schreckliche und wunderschöne Welt dahinter abriegeln. Ich werde auf grausame Art ausgesperrt und kann nur stumm dabei zusehen.
Kuri schenkt Vivi einen Finstern Blick. Im gleichen Augenblick presse ich ein heiseres »Alles gut« heraus, und weiß nicht, an wen der beiden ich das eigentlich sage. Mir ist schlecht und wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich mich am liebsten in meinem Sweatshirt versteckt zusammenrollen und heulen. Das alles - alles was passiert ist, mit Laney und danach und dann alles hier, in Sandywoods Manor - es ist einfach zu viel für mich. Zu viel, über das ich nicht nachdenken will, zu viel, das über mich herfällt. Eine Bestie, gegen die ich nicht ankomme.
Ein Teil von mir will, dass alle beide verschwinden. Dieser Teil von mir will die Tür schließen und heulen und sehnt sich nach Hause. Nach Heimat. Nicht unser Haus, mit all seinen leeren Zimmern und dunklen Schatten.
Ich vermiss meine Freunde. Es ist Dienstag. Pip ist dienstags immer beim Training. Ich glaube, sie hat bald ein Turnier. Früher sind wir einmal im Monat nach ihrem Training alle zusammen zu ... Nein, das tue ich mir jetzt nicht an.
»Alles okay.«, sage ich noch mal, mit wackliger Stimme. Kuris Blick macht deutlich, dass er nicht überzeugt ist. Vivi tritt unsicher von einem Fuß auf den anderen. Sie scheint keinem von uns beiden so recht zu trauen, und vielleicht ist sie hier auch gerade die einzig vernünftige. Ich weiß nicht, wieso die anderen alle hier sind, aber die Tatsache, dass sie hier sind bedeutet, sie sind genauso kaputt, genauso verrückt, genauso unfähig, in der Außenwelt zu existieren, wie ich. Vermutlich wäre es das Richtige, jemanden zu holen, der mit all dieser Verrücktheit und Nichtfunktionieren umgehen kann.
Ich spüre, wie sich die flaumigen kleinen Härchen in meinem Nacken aufstellen und bin kurz davor mich umzudrehen. Kuris ruhige aber bestimmte Stimme kommt mir zuvor.
»Er sagt, er ist okay.«
Ein leises Rascheln von Stoff, ein zögerlicher Laut, und dann leichte federnde Mädchenschritte, die sich wieder entfernen.
Die Saphiraugen sind unergründlich. Obwohl er die Arme verschränkt hat, wirkt Kuri nicht defensiv. Ich wünschte wirklich, er würde mir den Rest von seinem Gesicht zeigen, damit ich seine Haltung und Mimik besser verstehen kann.
»Das habe ich nicht gesagt.«, murmle ich, mehr zu mir selber als zu Kuri.
»Weiß ich.«, gibt er zurück und ich bilde mir ein, den Anflug eines Lächelns in seinem Tomfall zu hören. »Ich dachte nur, noch ein neues Gesicht macht dich erst recht fertig.«
Ich blinzle ihn sprachlos an. Bin ich so leicht zu durchschauen? Wie kann mich jemand, den ich vielleicht fünf Sekunden kenne, so einfach lesen.
Er scheint zu merken was in mir vorgeht und zuckt mit dem Schultern. Dann zupft er wieder an seinem Schal herum und legt mir eine seiner großen Hände auf den Rücken. Es ist nur der Hauch einer Berührung zwischen meinen Schulterblättern, aber sie durchfährt mich wie ein Blitz. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich hellwach. Für den Bruchteil einer Sekunde kann ich in alle Paralleluniversen sehen, kann alle Was-Wenns und alle Vielleicht-Irgendwanns sehen.
»Willkommen daheim.«, sagt der Kuri mit einer guten Portion Sarkasmus. Er gibt mir einen kleinen Stups und ich leiste zaghaften Gehorsam.
Er hat Recht. Zeit, meine neue Heimat zu beziehen.
Ich betrete das Zimmer mit seinen kahlen Wänden und dem nichtssagenden Mobiliar. Nach ein paar Schritten drehe ich mich noch mal um. Kuri lehnt im Türrahmen, genauso wie vorhin, und beobachtet mich. Seine Augen lächeln, zwar skeptisch und distanziert, aber sie lächeln.
Ein warmer Luftzug zieht über meine seelische Eiswüste.
Vielleicht ... ich wage es nicht den Gedanken weiter zu denken.
Ja. Vielleicht.

KollateralschadenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt