Letztes Jahr, Sommer (II)

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Wir erreichten das Badezimmer gerade noch rechtzeitig.
Ein Blick in mein Gesicht hatte Pip genügt, um meine Hand zu nehmen und mich ins Haus, durch die Menge und hinauf in das große Badezimmer im ersten Stock zu ziehen.
Hier oben war es leiser und nur vereinzelte Pärchen auf der Suche nach etwas Privatsphäre hatten sich nach oben verirrt. Das Badezimmer war auf wundersame Weise herrlich leer, und während Pip noch damit beschäftigt war, die Tür zu verriegeln,  kotzte ich bereits meinen Mageninhalt in die blütenweiße Toilette.
Ich war ausgelaugt und müde. Kraftlos sank ich auf die Knie und legte den Kopf auf der wunderbar kühlen Klobrille ab. Aus meiner jetzigen Perspektive sah aus, als stünde Pip seitlich an der Wand. So im Licht erkannte ich, dass sie sich wieder die Haare gefärbt hatte. Diesmal war es ein sanftes rosig schimmerndes Silber, das gut zu ihr leicht rosigen Haut passte.
Von dieser seitlichen Perspektive wurde mein Schwindelgefühl und die Übelkeit nur schlimmer. Schnell schloss ich die Augen, hoffte, betete, das würde schnell vorbei gehen. Mein Magen krampfte und verdrehte sich und protestierte. Ob über den Alkohol darin oder darüber, dass er seinen Inhalt so gewaltsam hatte hergeben müssen, konnte ich nicht sagen.
»Schöne Haare«, nuschelte ich.
»Danke. Es hätte eigentlich ein bisschen intensiver sein sollen.« Ich hörte, dass sie lächelte, als freute sie sich wirklich, dass es mir gefiel.
Ich hörte ihre Schritte und dann das Rauschen und Platschen von Wasser. Es klang, als wusch sie sich das Gesicht. Sie drehte den Wasserhahn wieder zu. Ich vernahm ein leises Schniefen aus ihrer Richtung.
»Nicht«, setzte ich an, aber selbst ich konnte mich nicht hören.
»Nicht traurig sein.«, versuchte ich es noch mal lauter. Die Worte glitten ineinander über und waren kaum voneinander zu trennen. Ich klang wie ein Kleinkind. Ich fühlte mich auch wie ein Kleinkind. Verwirrt und müde und traurig und hilflos.
Pip schniefte noch mal. »Tut mir Leid«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich hatte einfach nen beschissenen Abend.«
Mir war immer noch kotzübel und mein Magen schien sich einfach nicht beruhigen zu wollen. Ich hob den Arm ohne die Augen zu öffnen.
»Ebenso.«
Pips Schritte kamen auf mich zu, aber ehe sich mich erreichte, klopfte es zögerlich an der Badezimmertür. Ich öffnete die Augen ein Spalt weit.
Pip verharrte mit einem Bein in der Luft, offensichtlich verunsichert, was sie tun sollte. Sie wirkte so verloren. Und sie hatte definitiv geweint. Auch wenn sie sich das verschmierte Make Up abgewaschen hatte, waren ihre Augen verräterisch gerötet. Mehr erkannte ich auf die Entfernung nicht, aber ich hätte darauf schwören können, dass in ihren Augen neue Tränen glitzerten.
Es klopfte erneut, dieses Mal jedoch begleitet von einer sehr vertrauten Stimme.
»Pip? Bist du da drin, Pip?«
Diese unaufgeregte, samtige Stimme mit dem tiefen Bass gehörte unverkennbar zu Benno. Ich öffnete die Augen ganz und versucht mit ihnen Pip ein Zeichen zu geben, dass sie ihn hereinlassen sollte.
Sie beachtete mich zwar nicht, ging aber dennoch zur Tür. Sie öffnete gerade weit genug, dass sie hinaus auf den Flur spähen konnte. Doch kaum war die Tür entriegelt, zog Benno sie soweit auf, dass er hindurch schlüpften konnte. Benno, ein rundlicher Junge und etwas über einen halben Kopf größer als ich, nahm Pip bei den Schultern und betrachtete sie einen Moment, ehe er sie in eine feste Umarmung zog.
Mit der schieren Masse seines Körpers kann er durchaus bedrohlich wirken, vor allem, wenn er wütend ist, aber die meiste Zeit wirkt Benno eher wie ein überdimensionierter Teddybär; knuddelig und mitfühlend und durch und durch der Inbegriff von Geborgenheit.
»Wieso weinst du?«, fragte er leise an Pip gewandt.
»Tu' ich nicht.«, schniefte sie in sein flaschengrünes Sweatshirt und versuchte, das Thema zu wechseln. »Was machs' du hier?«
»Hm? Ich dachte, ich hätte dich auf der Treppe gesehen. Ich suche eigentlich ...«, fing Benno im gleichen Moment an, in dem die Übelkeit wieder meinen Hals nach oben flutete und ich einen erneuten Schwall undefinierbarer Flüssigkeit in die Toilette würgte.
Ohne hinzusehen spürte ich die Blicke meiner beiden Freunde auf mir.
»Oh.«, machte Benno. »Da bist du also.«
Ich letge den Kopf wieder mit geschlossenen Augen auf der Klobrille ab. Ich fühlte mich elend.
»Ich will nach Hause«, wimmerte ich leise, wobei meine Stimme fast so tränenerstickt war wie die von Pip.
»Ich weiß«, seufzte meine beste Freundin ein bisschen mitleidig. »Aber in dem Zustand gehst du nirgendwo hin.«
Benno sagte nichts. Mit ein paar raschen Schritten war er bei mir. Er ließ sich hinter mich auf den Boden sinken und schlang wortlos die Arme um mich, behutsamer, als seine Umarmungen normalerweise sind.
»Was hast du angestellt?«, fragte er mich besorgt.
»Er ist betrunken.«, sagte Pip an meiner Stelle.
»Das ist ziemlich offensichtlich.«, gab Benno zurück und wandte sich dann wieder an mich. »Hast du zwischendurch auch mal Wasser getrunken? Oder was gegessen?«
Himmel, er klang echt besorgt.
Ich schluckte eine neue Welle der Übelkeit herunter und wollte ihm sagen, dass ich mich nicht erinnern konnte, aber die undeutlich gelallten Worte, die aus meinem Mund kamen, waren: »Ich glaub' ich steh mehr so auf Jungs.«
Diesen Gedanken, der mir bei Pips Kuss durch den Kopf geschossen war und sich da noch so neu angefühlt hatte, von mir selbst ausgesprochen zu hören, überraschte mich. Es klang unwirklich aber gleichzeitig wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass es wahr ist.
»Das weiß ich«, drang Bennos ungeduldige Stimme durch meine eigenen verworrenen Gedanken. »Kannst du jetzt bitte auf meine Frage antworten? Ich mache mir schon den halben Abend echt Sorgen um dich!«
Warte - was? Hatte er gesagt er ...?
»Du weiß' es?«, hakte ich nach, als würde mir das helfen, das Chaos in meinem Kopf zu ordnern. Ich versuchte ihn anzuschauen, aber dazu hätte ich mich zu ihm undrehen müssen. Stattdessen blinzelte ich zu Pip hoch. Wann war sie eigentlich zu uns herübergekommen? Sie fing meinen Blick auf. Auch sie schien unbeeindruckt von meiner Selbsterkenntnis.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir wussten es alle, Dummkopf.«
Ehe ich wusste, wie ich darauf reagieren sollte, ging Benno dazwischen.
»Ehrlich, Law, es ist schön, dass du es jetzt auch weißt, aber ich würde dieses Gespräch lieber mit dir führen, wenn du nüchtern bist und nicht mit dem Kopf im Klo hängst.«
Ja gut, da hatte er ein durchaus valides Argument.
»Kriege ich jetzt eine Antwort von dir?«
»Nein.«, sagte ich matt.
»Nein, ich kriege keine Antwort, oder nein, du hast nicht gegessen oder Wasser getrunken?«, hakte Benno mit Engelsgeduld nach.
»Das zwei'e«, nuschelte ich müde. Ich spürte Bennos große, warme Hand sanft über meinen Kopf streichen. Obwohl ich mich so miserabel fühlte und mein Magen partout keine Ruhe geben wollte, fühlte ich mich sicher und geborgen. Benno war da. Pip war da. Mir würde bestimmt nichts passieren.
»Weißt du, dass deine Klamotten klitschnass sind?«, hörte ich Benno fragen.
»Hm? Sin' sie?« Ich konnte mich nicht daran erinnern, wie sie nass geworden waren, aber jetzt, wo er es sagte, fiel mir auf, wie mein Shirt und meine Jacke an mir klebten und wie verdammt ich in den feuchten Sachen fror.
»Ich nehme an, du kannst mir auch nicht sagen, wo du deine Mütze gelassen hast?«, seufzte Benno. Himmel, diese Besorgnis! Auch wenn er Recht hatte. Ich verlasse das Haus praktisch nie ohne Mütze, aber betrunken wie ich wahr konnte ich mich nicht mehr daran erinnern, ob ich ein aufgehabt hatte. Ich presste einen Laut heraus, der mit viel gutem Willen als 'Nein' durchging.

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