Die Nachtschicht, ein älterer Mann mit silbrig schimmernden, schulterlangen Locken, unzähligen Lachfalten um die Augen und dem Körper eines Vollathleten, dreht dreimal seine Runde über den Flur, wobei er vor jedem Zimmer kurz anhält, sachte die Tür öffnet, und nach dem Rechten sieht.
Es wäre leicht. Trotzdem bringe ich es nicht fertig, um Hilfe zu bitten. Und was soll dieser Fremde auch tun? Niemand kann die Zeit zurückdrehen. Niemand kann meine Schwester wieder lebendig machen, oder an den Zeitpunkt reisen, als alles schief ging. Niemand kann das reparieren. Niemand kann mich reparieren.
Je länger diese Nacht andauert, je mehr ich nicht schlafe, umso trauriger und wütender werde ich.
Dante hatte recht. Ich atme und in meinen Adern fließt Blut und mein anatomisches Herz schlägt nach wie vor beschissen regelmäßig in meiner Brust, aber eigentlich bin ich zusammen mit Laney gestorben.
Ich lebe nicht. Ich existiere nur.
Irgendwann, kurz vor Morgengrauen, höre ich vom Flur verschlafen tapsige Schritte und eine leise Stimme, die nach Ray ruft. Ich weiß nicht, wer meiner neuen Mitbewohner das ist. Die Stimme ist zu leise und mein Gehirn zu müde.
Andere Schritte - Rays Schritte - kommen näher. Leises, beruhigendes Gemurmel, und dann entfernen sich zwei Paar Schritte ans andere Ende des Flurs. Wahrscheinlich zum Pflegerbüro hier auf dem Flur, das zwischen Waschraum und der Tür zum Treppenhaus in die oberen Stockwerke eingeklemmt ist.
Die kahlen Wände meines Zimmers verhöhnen mich. Die buttergelben Vorhänge sind zu durchlässig, um den kalten Spott des Mondes draußen zu halten.
Versager.
Ich bin so ein Versager.
Ich verfluche mich selbst, dass ich nicht an meinen alten MP3-Player gedacht habe. Mein Handy darf ich hier nur während fester Zeiten und unter strenger Aufsicht benutzen. Ich wünschte, ich könnte Musik hören. Ich hab nicht einmal daran gedacht, wenigstens ein Buch einzupacken.
Eigentlich habe ich überhaupt nicht daran gedacht, was das bedeutet, hier her zukommen. Welche Ausmaße das hat.
Allmählich wird es draußen heller. Schmutziges graues Morgenlicht kämpft sich durch die Vorhänge. Es lacht mich aus, während ich einen weiteren Strich auf meiner gedanklichen Strichliste mache. Noch eine schlaflose Nacht. Noch eine Nacht, die ich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit überstanden habe.
☆☆☆☆☆
Ray zählt uns durch, ehe er die Tür zum Treppenhaus aufsperrt und wir im Gänsemarsch ein Stockwerk höher trotten. Ich bin ganz offensichtlich nicht der Einzige mit zu wenig Schlaf. Alle wirken viel zu müde und die Bewegung sind steif und mechanisch. Enny sieht aus, als könnte sie jeden Moment mitten im Gehen einschlafen. Nur Raffaell ist putzmunter und würde wahrscheinlich wie ein Kolibri mit Zuckerschock über der Treppe schweben, wenn Enny ihn nicht wohlweislich an die Hand genommen hätte und damit am Boden verankert.
Der Speiseraum, in dem wir schließlich ankommen, ist groß und quadratisch, mit kadmiumgelb gestrichenen Wänden und geblümten Gardinen vor den Fenstern. In der Mitte sind zwei kleinere Tische zu einem großen Rechteck zusammengeschoben, groß genug um zwölf Personen bequem Platz zu bieten, obwohl nur zehn Stühle darum verteilt stehen. Keine zwei Stühle sind gleiche. Manche sind aus Plastik, andere aus Holz und wieder andere sehen aus wie metallene Gartenstühle. Das einzig gemeinsame an dieser zusammengewürfelten Sitzgruppe sind die Polster - quadratische Sitzkissen im gleichen warmen Kadmiumgelb wie die Wände.
An der Decke hängt eine dieser modernen Designerlampen, die keiner wirklich schön findet, weil sie eigentlich in keinem Raum jemals gut aussehen.
Die türseitige Wand wird vollständig von einer niedrigen Theke eingenommen, auf der Geschirr und Lebensmittel stehen und wie ein trauriger Versuch eines Frühstücksbuffets aussehen.
Vin, die gleiche Pflegerin, die ich gestern schon getroffen habe, wartet hier bereits. Heute trägt sie eine andere Strickjacke zu ihrer Dienstkleidung, die mich irgendwie an Mormors unzählige handgestrickte Pullover erinnert. Ich weiß nicht, ob das einfach ein Ding von norwegischen Großmüttern ist, oder ob das einfach nur ein Ding von meiner norwegischen Großmutter ist. Pullover stricken, meine ich.
Ray geht zu Vin hinüber. Die beiden wechseln ein paar Worte, dann reicht Vin Ray ein kleines Klemmbrett und geht an die Theke.
Währendessen stürzt sich die kleine Gruppe verlorener Kids auf das Frühstück. Es gibt ein Gerangel um Brötchen und Aufstriche und Leto und Raffaell halten schließlich beide eine Hälfte desselben Brötchens in den Händen.
Ich stehe immer noch bei der Tür und beobachte die Szene vor mir, unsicher was ich tun soll. Die anderen sind längst eine feste Gruppe, mit ihrer ganz eigenen Dynamik, ihren ganz eigenen kleinen Riten und einer ausgeprägten nonverbalen Verständigung. Sie funktionieren zusammen, irgendwie. Ich fühle mich ausgeschlossen und seltsam fehl am Platz. Wie soll ich in diesen bunten, eingespielten Haufen hineinpassen?
»Willst du auch einen Saft?«, fragt eine schüchterne Stimme neben mir. Ich löse den Blick von Leto und Raffaell, die beide versuchen, dem jeweils anderen seine Brötchenhälfte aus der Hand zu reißen und wende mich in Richtung der Stimme.
Das Mädchen, das neben mir steht, muss wohl Vivis Zimmergenossin sein. Sie ist groß - ich schätze so was um die 1,85m, gerade mal ein paar Zentimeter kleiner als ich. Ihre glatten, schwarzen Haare hat sie trotz der frühen Stunde in einen akkurat sitzenden Pferdeschwanz gebunden. Ihr Pony ist gerade geschnitten, wie mit dem Linial gezogen. Auch ihre gelbe Wickelbluse ist ordentlich gebunden und passt farblich wunderbar zur kirschblütenfarbenen Leggins. Sie scheint viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Ich glaube, sie ist verdammt unsicher und schüchtern.
In der Hand hält sie eine Flasche Orangesaft. Fragend schüttelt sie die Flasche. Ich nicke, mehr aus Höflichkeit, und sie greift hinter sich nach einem Becher und füllt ihn mit der orangenen Flüssigkeit auf.
»Wie heißt du?« Eigentlich wollte ich danke sagen.
Ihre Wangen verfärben sich rosa und sie senkt den Blick, als versuche sie, sich kleiner zu machen und zu verstecken. Sag ich ja, schüchtern und unsicher.
»Kiki.«, murmelt sie. Ihre Stimme ist angenehm und irgendwie androgyn. Zu tief, um eindeutig weiblich zu sein und zu hoch, um als maskulin zu gelten.
»Du heißt Lawrence, oder?«, fragt sie und schaut mich kurz an, ehe sie den Blick wieder senkt. Ich glaube, ich verziehe das Gesicht beim Klang meines Vornamens.
»Nur Law.« Das kommt irgendwie härter raus, als beabsichtigt und Kiki zuckt ein bisschen zusammen. »Bitte?«, füge ich hinzu. Meine Wangen fühlen sich zu warm an.
»Oh. Okay?«, sagt Kiki und reicht mir verlegen meinen Becher mit Orangensaft.
»Willst du, äh, was zu Essen?«, fragt sie dann und macht eine vage Geste, die die Theke einschließt. Mein Blick schweift automatisch darüber, ohne richtig hinzusehen.
»Ich mag kein Brot.«, teile ich Kiki ebenso automatisch mit. Sie reagiert nicht mit einem der üblichen Blicke, die darauf normalerweise folgen. Ich bin daran gewöhnt, komisch und manchmal sogar entsetzt angeschaut zu werden, als sei es eine Todsünde, kein Brot zu essen.
Kiki jedoch wischt nur einen unsichtbaren Fussel von ihrer Leggins und zuckt mit den Schultern.
»In dem Fall hast du die Wahl zwischen Haferflocken und Cornflakes. Ist aber ziemlich egal, die schmecken beide nach Pappe.« Als würde das irgendeine Rolle spielen. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum ich mir überhaupt nich die Mühe mache, etwas zu essen - warum ich mir die Mühe mache, weiterzumachen. Ich sage Kiki nichts davon.
»Vergiften werden sie uns hier wohl nicht.«, sage ich trocken. Ich glaube, Kiki lächelt ein bisschen.
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Kollateralschaden
Teen Fiction「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...