Eine ganze Weile passiert gar nichts. Dr. Phyo seufzt noch einmal, klopft erneut - dieses Mal lauter - an die Tür und reibt sich dann entnervt die Nasenwurzel.
»Kuri! Mach dir Tür auf.« Ich bin fast etwas beeindruckt, dass seine Stimme nach wie vor ruhig ist. Trotzdem macht es sein Tonfall deutlich, wie ernst es ihm ist.
Obwohl hinter der kargen, baubyblauen Tür weder eine Antwort noch Schritte noch sonst irgendein Mucks zu hören ist, wird sie plötzlich mit Schwung aufgerissen. Ein Junge lässt sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen fallen und funkelt uns (okay, vielleicht auch nur den Doc; mich scheint er gar nicht wahrzunehmen) mit finsterer Miene an. Besser gesagt schließe ich aus seinen zusammengezogenen Augenbrauen und den verschränkten Armen, dass er eine finstere Miene macht. Die untere Hälfte seines Gesichts wird vollkommen von einem flauschigen Loopschal aus beigem Teddyplüsch verborgen. Abgesehen von dem Schal wirkt er wie aus der Zeit gefallen.
Er trägt zerfetzte schwarze Skinny Jeans, mit Nieten besetzte Springerstiefel und Lederarmbänder zu einem Raglan-Shirt mit ausgefranstem Kragen und der Aufschrift 'Graceful Chaos'. Seine Haare, ein verwuschelter Pixi Cut, sind gefärbt in diesem nicht-ganz Lila/ nicht-ganz Rot von dunklen Kirschen. Und er ist groß. Wahrscheinlich an die zwei Meter.
Ich versuche, ihn nicht anzustarren, aber bei seinem Anblick ist mein Kopf mit einem mal wie leer gefegt und meine Synapsen scheinen nicht mehr zu funktionieren. Ich bin voll und ganz gebannt von ihm, von den Nietenstiefeln bis rauf zu den lilaroten Haarspitzen. Obwohl sein Shirt alles andere als eng geschnitten ist, lassen sich seine mehr als gut trainierten Muskeln einwandfrei erkennen. Seine Haut ist hell, aber mit einer Nuance von ... 'Nougat', schießt es mir durch den Kopf. Keine Ahnung, ob das der richtige Begriff ist, aber daran erinnert mich sein Teint.
Ich kann nicht sagen, ob ich ein Geräusch mache, oder ob er meinen Blick spürt. Was es auch ist, der Junge dreht den Kopf leicht zur Seite und mustert mich aus vereengten Augen. Die dunkle Iris erinnert mich an das tiefe Violett einer Süßkartoffel oder violetter Saphire. Ich würde mich gerne in ihnen verlieren. Sie sind schön. Er ist schön. Alles an ihm wirkt so ... vollkommen.
Aber sein Blick ist distanziert, mit einer so überwältigenden Skepsis, als müsse er erst noch herausfinden, ob ich es Wert bin, auch nur in seiner Umlaufbahn zu existieren. Zusammen mit seiner reinen Körpergröße macht das eine ziemlich einschüchternde Ausstrahlung. In einer leisen Ecke meines sonst leeren Gehrins regt sich der Impuls, schleunigst das Weite zu suchen. Stattdessen stehe ich weiterhin wie angwurzelt schräg hinter Dr. Phyo und starre diesen schönen, gefährlichen Jungen an.
»Kuri«, seufzt der Doc, offensichtlich unbeeindruckt von dem Patienten vor sich. »Wie oft sollen wir das noch wiederholen? Du weißt, dass die Türen außer zur Nachtruhe offen bleiben!«
Kuri wendet langsam den Blick von mir zurück zu Phyo und zuckt wortlos mit den Schultern.
Ich bin gleichsam erleichtert, nicht mehr das alleinige Zentrum seiner Aufmerksamkeit zu sein, und, ja, enttäuscht. Beinahe wünsche ich mir, den intensiven, elektrisierenden Blick dieser unergründlichen Saphieraugen noch ein bisschen länger auf mir zu spüren. Mich noch ein bisschen länger in seiner vollkommenen Schönheit zu verlieren. Noch ein bisschen länger von meiner eigenen Realität entrückt zu sein.
Kaum, dass er mich nicht mehr ansieht, ist mein Kopf wieder zum Bersten voll mit all den Erinnerungen und betäubten Gefühlen und lauter Dingen, an die ich nicht denken will. Als hätte man unsanft einen Vorhang aufgerissen, der alles Übel der Welt verborgen hatte. Es stürzt alles wie ein Tsunami auf mich zu. Und da ist etwas in meiner Brust. Etwas anderes, als das Ziehen und Stechen, das Laney hinterlassen hat. Etwas anderes, als die hungrige Leere, der bodenlose Abgrund, der plötzlich da war, nachdem mich mein bester Freund verraten hat. Etwas, das so schwach, so zittrig, so winzig ist, das ich es fast nicht gemerkt hätte. Ein Funken. Ein Funken mit der festen Intention, mein erstarrtes Herz erneut schlagen zu lassen.
Fuck.
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Kollateralschaden
Teen Fiction「Ich bin ein Kollateralschaden einer kaputten Welt. Laney war es auch. Und ich war entweder nicht mutig genug, es ihr gleichzutun, oder nicht feige genug. Das Bild tiefvioletter Augen, die mich distanziert und skeptisch mustern, schiebt sich über di...