Zuhause?

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Ganz von meinen eigenen Erinnerungen gebannt, brauche ich ein paar Sekunden, bis Dr. Phyos nächste Worte zu mir durchdringen.
»Kuri, ich möchte, dass du Lawrence hilfst, sich hier einzuleben.«
Moment. Mo-oh-ment. Wie sind wir denn hierhin gekommen? Ich muss irgendwas verpasst haben.
Kuri entschränkt seine Arme und richtet seinen Schal, was bedeutet, er zieht ihn noch ein Stückchen höher, sodass er praktisch nur noch Schal und Augen ist. Er wirft mir einen kurzen, abschätzigen Seitenblick zu, ehe er wieder zum Doc schaut. Ich schwöre, seine Augen schießen eine ganze Salve spitzer Dolche ab.
»Warum?«, fragt er ruhig. »Wäre das nicht eher was für Vivi?«
Phyo zieht ein klobiges, schlichtes Handy aus einer seiner Kitteltaschen - Modell Diensttelefon - und wirft einen prüfenden Blick auf das Display. Der schwarze Kasten blinkt und vibriert von einem eingehenden Anruf. Ohne aufzublicken antwortet er: »Wenn es so problematisch für dich ist, Verantwortung zu übernehmen, kannst du das gerne in der nächsten Stunde mit deiner Therapeutin besprechen. Bis dahin wirst du dich um Lawrence kümmern, verstanden?« Er macht eine Kunstpause, in der er erst Kuri, dann mich mit einem intensiven Blick anschaut.
»Tut mir Leid, aber ich muss da rangehen« Er deutet auf das Telefon. »Wenn du noch Fragen hast, oder etwas brauchst, kannst du dich jeder Zeit bei den Kollegen aus dem Pflege- und Erziehungsteam melden.« Er lächelt mich freundlich an und wirft Kuri einen nachdenklichen Blick zu.
»Und noch mal zu deiner Frage«, sagt er gelassen und mit verschmiztem Funkeln in den Augen zu dem riesigen Jungen im Punkrock-Look, »Du bist am längsten hier. Du solltest dich also am besten mit allem auskennen.«
Kuri scheint für den Moment sprachlos zu sein. Seine Augen sind ein winziges bisschen weniger verengt und seine Haltung wirkt auch etwas weniger defensiv. Als ihm schließlich ein Konter einfällt, ist der Doc schon fast an der Treppe nach unten.
»Sie wissen schon, dass das ein Armutszeugnis für uns beide ist, oder?«, ruft er dem Arzt hinterher. Der winkt nur, hebt das Diensttelefon ans Ohr und ist auch schon verschwunden.
Ich habe das unangenehme Gefühl, angestarrt zu werden und kann den Impuls nicht unterdrücken, mich umzudrehen.
Sämtliche Patienten lugen mit einer Mischung aus Verwirrung und Schock aus ihren Zimmern zu Kuri und mir herüber.
In mir breitet sich ein Höllenfeuer aus. Ich wünsche mir, unsichtbar zu sein. Ich höre ein leises Rascheln neben mir; Kuri hat sich aus dem Türrahmen gelöst und die Hände tief in die Taschen seiner Skinny-Jeans vergraben.
»Ah, verdammt.«, murmelt er so leise, dass ich es nur höre, weil ich direkt neben ihm stehe.
»Wow. Du kannst ja doch ganze Sätze benutzen! Respekt!« Die Augen der kleinen Latina springen förmlich aus ihren Höhlen, aber sie klingt ernsthaft beeindruckt.
»Klappe, Leto.«, schießt Kuri zurück in die Richtung, aus der die Stimme kam, und die Latina, die offensichtlich Leto heißt, zuckt mit den Schultern und verschwindet wieder in ihr Zimmer. Die anderen Kids - meine Mitpatienten - folgen kurz darauf ihrem Beispiel. Jetzt stehen nur noch Kuri und ich hier draußen auf dem Flur und ich fühle mich absolut Fehl am Platz.
Mit einem Mal bereue ich, Dantes Angebot, mich zurück mach Hause zu bringen, ausgeschlagen zu haben. Andererseits ... Ich denke an mein dunkles Zimmer. An Laneys verschlossene Tür. An die Geisterschatten meiner abwesenden Eltern. An das Gästezimmer, in dem Dante manchmal schläft. Das andere Gästezimmer, das immer leer bleibt. Was heißt schon Zuhause, wirklich?
Ich bin froh über das übergroße Sweatshirt, dass mir nicht gehört. Darin kann ich mich verstecken. Ich lasse die Ärmel über meine Hände fallen.
»Du bist Lawrence.«, höre ich Kuris Teddyplüsch-gedämpfte Stimme. Ich bin mir nicht sicher, ob er es als Feststellung oder als Frage meint. Weil er auf eine Antwort zu warten scheint, fange ich an zu nicken, entscheide mich dann aber bei halber Ausführung für ein Kopfschütteln.
Eine Augenbraue verschwindet hinter rot-violetten Haarsträhnen.
Ich beiße mir auf die Lippe, bis ich den metallischen Geschmack von Blut im Mund habe.
»Nur Law.«, stelle ich schließlich klar. »Lawrence sagen eigentlich nur meine Eltern und - « Ich breche abrupt ab. Ein kleiner giftiger Dorn rutscht durch meine Brust. Wenn ich den Satz beende, wird er mich verletzen.
Kuris Augen sind noch immer auf mich geheftet.
»Und, äh, Lehrer?« Ich wünsche mir wirklich im Boden zu versinken und nie wieder aufzutauchen.
Kuri nickt bloß, als wäre mein Verhalten das absolut normalste auf der Welt.
»Schätze, das da ist jetzt dein Zimmer.«, sagt er nach einer unangenehm langen Pause und nickt mit dem Kopf in Richtung des freien Zimmers neben seinem. Keiner von uns beiden rührt sich. Ich hätte nichts dagegen, ihn bis in alle Ewigkeit einfach nur anzuschauen. Ich bin an eine Starkstromleitung angeschlossen. Ich bin die Elektrizität selbst. Er ist ein Verstärker, der alles so viel Leuchtender macht. Gleichzeitig wirkt das Dunkel um ihn nur umso dunkler. 'Er ist ein Leuchtturm in tosender See', schießt es mir durch den Kopf. Alles um ihn ist abweisend, rau und gefährlich. Um ihn. Nicht er selbst. Keine Ahnung, woher ich diese Gewissheit nehme. Ist es seine Haltung? Etwas in seinem Gesicht? Oder einfach nur Wunschdenken meines verwirrten, überladenen Gehirns? Der verzweifelte letzte Aufschrei, ehe mein dummes, dummes Herz für immer im ewigen Eis meiner Seele erstarrt?
Ich wüsste gerne, wie sein Gesicht hinter dem Schal aussieht, und vor allem welches Narbenmuster sein Herz, seine Seele ziert.
Zum ersten Mal in meinem Leben wünsche ich mir, die schützende Festung eines Fremden einzureißen, um den echten Menschen dahinter zu sehen.
Die violetten Augen geben nichts Preis. Es kommt mir vor, als habe er meterdicke Stahlwälle um seine Seele errichtet und alles, was aus dem tiefen Saphirsee seiner Iris herausglitzert, ist der kühle, unerbittliche Stahl.
Er neigt den Kopf ein wenig zur Seit und seine Haare kippen mit der Bewegung. Sie sehen fast so flauschig aus wie sein Schal.
Beinahe hätte ich die Hand ausgestreckt, um diesen Gedanken einer Realitätsprüfung zu unterziehen. Fast im selben Moment macht er einen unwillkürlichen Schritt zurück. Hat er gespürt, was in mir vorgeht? Mir wird bewusst wie unglaublich schnell und laut mein Herz in meiner Brust klopft. Wie ein Maschienengewehr. Ich glaube, ich werde ein bisschen rot. Schamesrot.
Sie mal einer an. Und da dachten alle, ich habe keine Gefühle mehr. Wie sehr man sich täuschen kann.
»Spät für eine geplante Aufnahme.«, vernehme ich Kuris Stimme, obwohl sich der Teil seines Gesichts, den ich sehen kann, überhaupt nicht zu bewegen scheint. Er musstert mich nach wie vor mit schiefgelegten Kopf und stechend intensivem, schmerzhaft distanziertem Blick. Wieder bin ich mir nicht sicher, ob es nur eine Feststellung ist, oder ob ich es als Frage verstehen muss.
Schließlich entscheide ich mich für ein schlichtes Schulterzucken. Das kann immerhin sowohl Reaktion als auch Antwort sein, oder?
Er zieht die Hände aus den Hosentaschen und verschränkt wieder die Arme vor der Brust. Ich kann ein leisen Quietschen hören, als seine Lederarmbänder aneinander reiben.
Ich glaube, er versuchz sich zu entscheiden, ob er weiterbohren, oder das Thema fallen lassen soll. Bitte, bitte frag nicht weiter!
Seine Augen streifen noch immer über mich. Keine Ahnung, was er da eigentlich die ganze Zeit anschaut. So spannend bin ich jetzt echt nicht.
»Also.«, sagt er mit einer Betonung, als stehe das Wort für eine ganze Rede. Für den Bruchteil einer Sekunde huschen seine Saphiraugen in die Richtung, in der mein Zimmer für die nächsten Monate liegt. Auf in dein neues Heim! Ich bin absolut nicht bereit dafür. Ob es tröstlich wäre, wenn mein Sweatshirt noch eine sanfte Spur seines eigentlichen Besitzers hätte? ... Meine eigenen Gedanken ziehen mich noch mehr runter. Irgendwann werde ich an ihnen ersticken, vor aller Augen, und keinen wird es kümmern.
Kuri setzte sich in Bewegung, ohne die Länge seiner Beine auszunutzen. Er scheint zu merken, dass ich noch gar nicht so weit bin, mich hier 'zu Hause zu fühlen'.
Ihn in Bewegung zu sehen bringt mich wieder völlig aus dem Konzept. Er hat die lautlose Anmut einer Raubkatze. Wunderschön und unmöglich zu bändigen.
Ich folge ihm wie auf Autopilot. Wenn ich ihm nicht folge, wird er verschwinden. Vielleicht ist er nur ein Hirngespinnst, dass sich mein beschädigtes, dummes Gehirn zusammengesponnen hat, und wenn ich ihn auch nur einmal aus den Augen lasse, werde ich ihn nie mehr wiedersehen.
Idiot. Idiot, Idiot, Idiot. Ich bin so ein Idiot.
Wenn Pip hier wäre, würde sie mich auslachen und bis an mein Lebensende damit aufziehen.
Kuri ist so lautlos und ich so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass ich beinahe in ihn hineinlaufe. Er bemerkt es gar nicht. Dem Himmel sei Dank.
»Dein Zimmer.« Er nickt zu der offenen Tür vor uns. Seine Haare schweben dabei auf und ab. Dunkle Farben können auch unglaublich leuchten.
Sein Saphirblick durchbohrt mich. Er fordert mich auf, in den Raum zu gehen. Zuhause zu sein. Mir wird schwindelig. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Ich kann nicht. Ich will nicht. Ich vermisse Laney.
Ich -

KollateralschadenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt