L O G A N
Mit einem brummenden Kopf erwachte ich am nächsten Morgen. Die Schatten des vergangenen Abends - und vielleicht auch das eine oder andere Bier zu viel - hatten sich als bleierne Schwere in meinen Schläfen eingegraben. Ich hatte ein verdammt gutes Gespür für Probleme und so war mir schon beim Aufwachen klar, dass es ein langer Tag werden würde.
Heiße Strahlen prasselten auf meinen Rücken, während ich unter der Dusche versuchte, den Nebel in meinem Kopf zu vertreiben. Als ich mich schließlich anzog und das Haus verließ, hing die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie stand allerdings in einer trügerischen Konkurrenz zu den dicken, weißen Quellwolken, die am Horizont drohend aufstiegen und ein unausweichliches Unheil ankündigten.
In meinem alten, zuverlässigen Pickup-Truck legte ich die kurze Strecke zur Werkstatt zurück. Als ich den Schlüssel ins Büroschloss steckte und das Licht einschaltete, hielt ich inne. Die kleinen, aber feinen Veränderungen, die Roberts Büro-Fee in meiner Abwesenheit durchgeführt hatte, waren unübersehbar. Die wenigen Pflanzen, die den Raum schmückten, strahlten in einem gesunden, lebhaften Grün. Die Bilder an den Wänden waren von einer dicken Staubschicht befreit und der Schreibtisch, einst unter Bergen von Papieren begraben, erstrahlte in seiner alten Pracht.
Zugegeben, die Sache mit der Buchhaltung war mir seit Marcs Tod wirklich ein wenig über den Kopf gewachsen, hatte ich die meiste Zeit doch Ablenkung in der Werkstatt gesucht. Dass bald wieder eine gewisse Ordnung herrschen würde, war sicher gut.
Mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee in der Hand schlenderte ich durch die Werkstatt zum Dock. Es war die gewohnte Stille des Morgens, die mir immer noch ein wenig Ruhe verschaffte. Ich liebte den Anblick des morgendlichen Pazifiks. Der regelmäßige Klang heranrollender Wellen und der stechende Geruch von Salzwasser und Seetang erfüllten meine Sinne und beruhigten meinen aufgewühlten Geist. So wie jeden Morgen seit seinem Tod, hielt ich inne und dachte an Marc.
Nach einer Weile trieben mich dicke Regentropfen wieder in die Werkstatt zurück. Ich stellte meinen Kaffee ab, warf meine Jacke über den Haken und sah auf die Uhr. Kurz vor neun. In wenigen Minuten sollte das neue Boot auf einem Hänger gebracht werden.
Ich entschied mich, Baxter, dem das Segelboot gehörte, im Hof zu empfangen, ging durch die Werkstatt und ins Büro. Als ich die Tür jedoch öffnete, entdeckte ich als erstes Mando, dann Grace, die gerade im Begriff war, ihre Jacke aufzuhängen.
„Oh, guten Morgen", sagte sie höflich und lächelte.
„Morgen."
Nach einem kurzen Nicken ließ sie den Blick sinken und kraulte Mando, was mir Zeit verschaffte, sie unbemerkt zu betrachten. Ihre Haare hatte sie heute zu einem wilden Irgendwas auf dem Kopf gebunden, aus dem einige Strähnen heraus fielen und ihr hübsches Gesicht einrahmten. Sie trug eine schwarze, enge Jeans und einen ziemlich großen, beigen Wollpullover, dessen Ausschnitt so riesig war, dass er eine ihrer Schulter freilegte.
Langsam aber sicher schwoll die Stille zwischen uns auf unangenehme Art und Weise an und so war ich es, der sich räusperte und als erster wieder das Wort ergriff. „Also", murmelte ich. „Falls das gestern irgendwie unangenehm für dich war..." Doch noch ehe ich den Satz beenden konnte, winkte Grace ab.
„Nein ... nein, keineswegs. Es ... es war doch ganz nett", sagte sie, strich sich über die Arme und lächelte matt, doch die Art, wie sie danach unbeholfen ihre Unterlippe einsog, verriet mir, dass es nicht die Wahrheit war.
„Wie auch immer." Ich räusperte mich. „Na dann ... ich muss raus, gleich kommt das neue Schiff."
„Die ‚Seagold', ja ich weiß."
Ich runzelte die Stirn und hielt inne. Dass sie so genau über die Termine bescheid wusste, überraschte mich.
„Ich ... ich hab nur ... na ja, ich habe alle Termine aus dem Auftragsbuch in einen etwas übersichtlicheren Planer eingetragen", erklärte sie sich dann und deutete auf einen auf dem Schreibtisch liegenden Planer, der heute morgen noch nicht dort lag.
Ich trat näher heran und begutachtete ihn kurz. In fein säuberlicher Handschrift hatte sie tatsächlich alles übertragen, angekringelt, eingekreist oder markiert. Nach wenigen Sekunden verstand ich, nach welchem Schema und es machte tatsächlich Sinn.
„Nicht schlecht", sagte ich leise. „Wann hast du das gemacht?"
„Zuhause. Gestern Abend. Nach dem Essen im Pub."
„Hm", brummte ich, tatsächlich ein bisschen beeindruckt. „Nett von dir."
„Ach, das mach ich gern."
„Dann ... danke." Ich drückte mich vom Schreibtisch ab und ging Richtung Tür. „Ich werd schon mal das Tor aufschieben."
Sie sah mich an, presste die Lippen aufeinander und nickte den Kopf.
Dann öffnete ich die Tür.
„Logan, warte!"
Ich hielt inne und sah Grace an.
Sie wirkte nervös, wie allzu oft, aber diesmal war es anders, das spürte ich sofort.
„Alles ok?", fragte ich unsicher.
„Ja", murmelte sie. „Ja ... nur ... hast du vielleicht eine Sekunde? Ich wollte mit dir ... na ja, mit dir über etwas sprechen."
Ich legte irritiert den Kopf schief, nickte und ließ den Griff der Tür los, die daraufhin knarzend wieder hinter mir zu fiel.
Dann war es still. Jedenfalls kurz.
„Also ... das fällt mir jetzt wirklich nicht leicht", sagte sie dann mit flattriger Stimme. Nervös spielte sie an ihren Fingern herum. „Aber ich will es nicht länger vor mir her schieben, ich ... ich weiß, ich hätte es schon längst sagen müssen, denke ich ... naja ... ich meine," sie räusperte sich, „ das klingt jetzt vielleicht bescheuert, aber ich ... "
Dann sah sie auf den Boden. Erneut verlagerte sie ihr Gewicht und auf ihrem Hals und ihrem Dekolleté malten sich rote Flecken ab.
Und dann verstand ich plötzlich, was hier abging.
Fuck! Die Jungs hatten recht gehabt. Sie stand auf mich. Und sie war gerade im Begriff es mir zu sagen.
„Grace!", unterbrach ich sie rasch, ging einen kleinen Schritt auf sie zu, blieb aber dann doch stehen.
„Ja?", hauchte sie und sah mich mit ihren großen, grünen Augen wieder an.
Shit! Ich würde sie kränken, das war mir klar. Aber ich wollte ihr die Scham gerne ersparen. „Ich weiß, dass das jetzt vielleicht kurz unangenehm ist, aber ich bin ein Freund von ehrlichen Worten, also sag ich es frei raus." Meine Kiefer mahlten kurz aufeinander, dann sagte ich einfach, wie die Dinge lagen. „Ich ... ich bin nicht interessiert", sagte ich mit fester Stimme. „Also an so Beziehungs-..." Ich suchte nach dem richtigen Wort. „Beziehungsdingen."
Mit einem Mal weiteten sich ihre eh schon großen Gazellenaugen noch mehr. Wie ein angefahrenes Reh sah sie mich ein wenig verstört an.
„Wie bitte?", fragte sie und sie runzelte die Stirn.
Ich hob meine Hände beschwichtigend vor meine Brust. „Nicht falsch verstehen. Ich fühle mich echt geehrt ... ich meine, du bist wirklich attraktiv ... aber das passt grade einfach alles nicht in mein Leben, also..." Ich rieb mir den Nacken. „Sorry! Aber ich habe echt kein weitergehendes Interesse."
Genau in dem Moment hupte ein Auto. Sicher war es Baxter mit dem Hänger.
Grace hatte sich nicht einen Zentimeter bewegt. Wie eingefroren starrte sie mich weiter an.
„Ich hoffe, das steht jetzt nicht irgendwie zwischen uns. Ich schätze deine Arbeit sehr ... mittlerweile", schob ich noch hinterher, um es irgendwie wieder gut zu machen, als das Auto erneut ungeduldig hupte. „Ich geh jetzt besser aufmachen", erklärte ich, und ließ die sichtlich schockierte Grace zurück.
Ich wusste, es war eine scheiß Situation für sie. Doch half es nicht. Lieber das Pflaster schnell und kräftig abziehen, dann war es auch nur halb so schlimm.
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Glück kommt in Wellen | ✔︎
Romantik( WATTYS 2023 Shortlist ) Nach einer verhängnisvollen Studentenparty, die Grace Sanders' Leben für immer veränderte, ist sie von Schuldgefühlen geplagt, die ihr jede Chance auf ein normales Leben rauben. Ihre einzige Hoffnung auf Besserung - Abbitte...