G R A C E
„Wie lange bist du heute im Studio?", fragte ich Mum, während ich in meine Boots stieg und Mandos Hundeleine vom Haken nahm. Mando schwänzelte bereits aufgeregt um mich herum. Er hatte den halben Morgen im Haus verbracht. Aber zwei wichtige Vorlesungen hatten meine Anwesenheit in der Uni erfordert. Ich hatte unglaublich viel Stoff abzuholen.
„Ich weiß es noch nicht", hörte ich Mums Stimme durchs Handy. „Heute Abend kommt George, also warte besser nicht auf mich."
„George? Wieder eine Einzelstunde, was?"
Mum schnaubte. „Er ist halt sehr verspannt, Schatz. Die Dehnungen tun ihm aber total gut."
„Natürlich Mum." Ich lachte. „Wie gut, dass er die beste Yogalehrerin der ganzen Stadt an seiner Seite hat."
„Danke für die Blumen." Mum kicherte.
Ich wusste, dass sie schon eine ganze Weile in George verliebt war und ihr Glück war auch meins. Ich freute mich für sie. Ich hatte George vor einem Monat, kurz nach meiner Rückkehr aus New Haven, kennen gelernt und obwohl mir ganz und gar nicht nach lachen zumute gewesen war, hatte er es doch geschafft, mich zum Lächeln zu bringen. Nämlich weil ich gesehen hatte, wie liebevoll er zu Mum war. Er machte sie glücklich. Meinen Segen hatten sie schon lange.
„Ich wünsche euch viel Spaß, grüß ihn von mir."
„Das mache ich, Schatz."
„Was machst du heute?"
„Ach, nichts besonderes. Ich schnappe mir jetzt Mando und drehe eine große Runde im Wald. Danach an der Hausarbeit weiter schreiben." Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, steckte mir die Haustürschlüssel in die Jeans und nickte Mando zu.
„Ich hab im Kühlschrank noch etwas Taboulé von gestern, Quark sollte auch noch da sein."
„Okay, danke." Ich öffnete die Tür und erschrak mich beinahe zu Tode.
Wie versteinert blickte ich mit großen Augen Logan an, der grade seinen Arm nach der Klingel ausgestreckt hatte.
Scheiße. Logan war hier?!
„M-mum ... ich ... ich ... wir sehen uns heute Abend, okay?", sagte ich hastig. Ich wartete nicht auf Antwort und ließ das Handy wie in Zeitlupe ungläubig sinken, während mein Herz wie im Zeitraffer raste.
„Grace ... hi", sagte er schließlich, während auch er seine Hand langsam wieder sinken ließ.
Seine tiefe, vertraute Stimme verfehlte ihre Wirkung auf mich nicht. Mit nur zwei kleinen Worten schlug sie meine Hirnmasse quasi zu Brei. Ich war völlig unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
„I-ich ... Logan ... ähm ..." Mein Beine wurden weich wie Pudding, so oder so ähnlich musste es sich anfühlen, unter Schock zu stehen. „I-ich ... ich meine ..."
Logan lächelte, rieb sich den Nacken und sah tatsächlich etwas verlegen drein. Seine braunen Iriden musterten mich zögerlich, als sei er von der Wirkung unseres Wiedersehens ebenfalls überwältigt.
Plötzlich stürmte Mando an mir vorbei. Das Monsterchen schob mich mit aller Kraft zur Seite und sprang Logan entgegen. Fiepend und Schwanzwedeln begrüßte der eine Riese den anderen, was mir Zeit gab, mich zu sammeln.
Nicht nur die Tatsache, dass Logan wie aus dem Nichts einen Monat nach meiner Abreise aus New Haven plötzlich hier vor mir stand, brachte mich völlig aus dem Takt. Nein, auch sein Aussehen schlug bei mir erneut wie eine Bombe ein. Das Kribbeln in meiner Magengrube war unmöglich nicht zu spüren.
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Glück kommt in Wellen | ✔︎
Romance( WATTYS 2023 Shortlist ) Nach einer verhängnisvollen Studentenparty, die Grace Sanders' Leben für immer veränderte, ist sie von Schuldgefühlen geplagt, die ihr jede Chance auf ein normales Leben rauben. Ihre einzige Hoffnung auf Besserung - Abbitte...