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G R A C E


Begleitet von den melodischen Klängen der sanften Brandung, spazierte ich am Meer entlang. Jeder Schritt, den ich in den weichen, warmen Sand versenkte, sandte einen Hauch von Behagen durch meine Füße, eine süße Erinnerung an einen unglaublichen Sommer. Der sanfte Kuss des Windes ließ meine Haare wehen, einzelne Strähnen strichen über mein Gesicht, kitzelten mich sanft. Die Luft war erfüllt von der scharfen Süße des Salzes, einem Balsam für die Seele. Am Horizont tauchte die untergehende Sonne das Meer in einen funkelnden Schleier aus Gold und Honig, als ob sie es mit ihrem letzten Atemzug noch einmal in eine zauberhafte Schönheit hüllen wollte.

Mit den Augen verfolgte ich das ausgelassene Spiel von Mando und dem kleinen Manfred. Die beiden Hunde tollten im Sand, ungeschlacht und doch liebenswert, wie zwei verspielte Riesenbabys. Sie tauchten ein in den Schaum der einlaufenden Wellen, verfolgten sie, sobald sie sich zurückzogen, nur um dann mit lautem Bellen und hoch erhobenen Schwänzen vor der nächsten Flut davon zu laufen. Ihre Freude, ihr unbeschwertes Glück, war ansteckend und zauberte mir ein warmes, liebevolles Lächeln auf die Lippen.

Als ich meinen Blick von den beiden Fellnasen löste, glitt er hinüber zur Werft. Normalerweise genossen wir diese Abendrunden mit den Hunden zusammen, doch heute hatte Logans Arbeit Vorrang. Daher hatte ich mich entschlossen, diesen Moment der Ruhe allein zu erleben.

Ich ließ meinen Blick zurück über das endlose Meer gleiten, beobachtete, wie die sanften Wellen im schwindenden Abendlicht funkelten. Und wie immer, wenn ich das Meer beobachtete, schlich Marc sich in meine Gedanken.

Er war es, der mich damals auf die verschiedenen Persönlichkeiten des Meeres aufmerksam gemacht hatte, und die Tatsache, dass ich diese Theorie auch auf die Persönlichkeiten der Brüder übertragen konnte, ließ mich nun jedes Mal schmunzeln, dachte ich daran.

Marc war das Meer an einem ruhigen Tag, so wie heut - verspielt und einladend, aber mit einer Tiefe, die leicht zu übersehen war, schaute man nicht richtig hin.

Logan war so anders. Er war rau und unnachgiebig, aber auch stark und wild – wie das Meer in stürmischen Zeiten. Logan war die mächtige Brandung, die an die Felsen schlug, unberechenbar und kraftvoll, und doch gab es darin eine Schönheit, eine Kraft, die mich faszinierte und anzog.

Das Meer selbst – der stetige Wechsel von ruhigen, sanften Wellen und mächtiger Brandung - war zur perfekte Metapher für Marc und Logan geworden, der ständige Beweis des Einflusses beider Brüder auf mein Leben.

Über dem Rauschen des Meeres hörte ich das Kreischen von Möwen, die hoch am Himmel ihre Bahnen zogen. Sie stiegen auf und ab, tanzten mit dem Wind, bevor sie sich entschieden, dem Ruf des Meeres zu folgen und gen Horizont zu fliegen. Ihr Schrei war wild und frei, eine Melodie, die so untrennbar mit dem Meer verbunden war wie die Wellen selbst.

Eine sanfte Melancholie erfüllte mein Herz, als ich an Marc dachte und an das, was er einmal zu mir gesagt hatte. So sicher, wie die Wellen ans Ufer laufen.  Er hatte mir New Haven tatsächlich gezeigt, obwohl er es selbst nicht miterleben konnte. Er hatte mich zu diesem Ort geführt, der nun meine Heimat war.

Ich blickte aufs Meer hinaus und sah die Sonne untergehen, die Welt in ein sanftes Rosa und Orange tauchen. Ich fühlte eine Welle der Liebe und Dankbarkeit, die so mächtig war wie die Brandung des Meeres.

Marc hatte in meinem Leben eine unersetzliche Rolle gespielt, und ich würde immer einen Teil von ihm in meinem Herzen tragen. Das Wissen, dass ich Logan nur durch den Verlust seines Zwillingsbruder hatte, hinterließ einen bittersüßen Geschmack. Es gab Tage, an denen dieses Wissen schwer auf meiner Seele lastete. Doch in diesem Moment, mit der untergehenden Sonne vor mir und dem endlosen Meer zu meinen Füßen, fühlte ich mich nicht erdrückt, sondern vielmehr erfüllt. Erfüllt von Liebe und Dankbarkeit. Für Marc, der mir den Weg gezeigt hatte. Und für Logan, den ich liebte und mit dem ich dieses Leben jetzt teilte.

Eine einzelne Träne rollte über meine Wange, ich seufzte und ließ sie schließlich gewähren. Es war eine Träne der Traurigkeit, ja, aber auch eine der Dankbarkeit, der Liebe und des Friedens. Ich wischte sie mit der Rückseite meiner Hand ab und schaute wieder auf das Meer hinaus, als ein Lächeln über mein Gesicht huschte.

Meine Zuneigung zu beiden Brüdern, so unterschiedlich sie auch waren, hatte mein Leben auf eine Weise bereichert, die ich nie für möglich gehalten hätte. Sie hatten mir gezeigt, was es bedeutet, zu lieben und geliebt zu werden. Und dafür würde ich immer dankbar sein.

Ich fühlte mich glücklich. Glücklich und vollkommen erfüllt. Und während ich dort am Ufer stand und auf das Meer hinaus schaute, und obwohl eine sanfte Melancholie meine Gedanken streifte, strahlte ich ein Glück aus, das aus tiefstem Herzen kam. 

Hier, in diesem Moment, am Rande des Ozeans, an der Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, war ich angekommen. Und ich wusste, dass es keinen Ort auf der Welt gab, an dem ich lieber sein wollte. Denn das hier war meine Heimat – so sicher, wie die Wellen ans Ufer liefen.


E N D E

Glück kommt in Wellen  | ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt