Ich soll die Nachricht geschrieben haben?
„Nein", sage ich bestimmt, weiß aber ehrlicherweise nicht so recht, ob ich mir zu hundert Prozent sicher bin. Ich erinnere mich noch an den gestrigen Abend. Ich weiß genau, dass ich mit der Bahn zu meiner Wohnung gefahren bin. Ich weiß auch noch, wie ich den Schlüssel gesucht und in das Schlüsselloch gesteckt habe. Doch ich erinnere mich auch daran, dass ich ziemlich müde gewesen bin und mich vermutlich so, wie ich war, auf mein Bett habe fallen lassen. Ich muss sofort eingeschlafen sein, denn heute Morgen bin ich in meinen Klamotten von gestern Abend aufgewacht.
Theo sieht mich durchdringend an. Doch ich bleibe dabei. „Nein, ich habe das nicht geschrieben!", beharre ich.
„Okay", meint er und lässt es erstmal gut sein. „Dann hat dich vielleicht jemand auf dem Kieker. Ein Feind? Alex Ex-Freund? Irgendeine Idee?", fragt er.„Keine Ahnung", gebe ich zu. „Ich habe keine Feinde und von Alex weiß ich fast gar nichts. Wir haben nur über unsere Interessen und Filme gesprochen. Wir lieben beide Christopher Nolan und haben uns über seine Filme ausgetauscht. Und dann haben wir ein wenig geflirtet. Ich dachte, Alex könnte endlich mal ein Mann sein, mit dem ich mich auch gut unterhalten kann. Jemand, der nicht nur auf Äußerlichkeiten achtet. Jemand, mit dem ich abends einfach nur einen Film schauen und mich danach darüber unterhalten kann.
Selbst als ich sie dann gesehen habe, wollte ich sie trotzdem kennen lernen. Wenn ich mich mit ihr gut verstanden hätte, wäre sie halt eine Freundin geworden, mit der ich Interessen teile. Aber dann hat sie von diesem Vogel erzählt", stöhne ich und lasse den Satz unvollendet. Theo kennt schließlich den Rest der Geschichte.
„Wie seid ihr denn überhaupt auf die Geschichte mit diesem Wellensittich gekommen?", fragt Theo neugierig.
„Kanarienvogel", korrigiere ich. „Und ich glaube, sie wollte einfach etwas Lustiges erzählen. Aber das ist voll in die Hose gegangen."„Ich habe nur dein Gesicht gesehen und wusste, dass du Hilfe brauchst", lächelt Theo plötzlich.
„Ach ja?", frage ich grinsend zurück. Unser Gespräch nimmt auf einmal eine völlig andere Richtung an, doch ich muss zugeben, dass es mir gefällt.
„Du wärst fast am Tisch eingeschlafen", lacht Theo und seine Augen strahlen, als er mich ansieht. Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe.
„Wäre das ein Date mit dir gewesen, wäre mir das nicht passiert", versichere ich leise lächelnd.„Ein Date mit mir?", fragt Theo erstaunt.
„Ich würde dich gerne besser kennen lernen", sage ich und merke, wie mir schon wieder heiß wird. Verdammt, das Eis ist wirklich dünn. Grade versuche ich ihn noch davon zu überzeugen, dass ich kein Verbrechen begangen habe und dann flirte ich mit ihm. Und das, obwohl ich nicht einmal weiß, ob er auch auf mich steht.„Okay", sagt Theo auf einmal und ich sehe auf.
„Okay?", echoe ich überrascht. Theo grinst.
„Ja, ich würde gerne auf ein Date mit dir gehen", beantwortet er die nicht gestellte Frage.
„Oh, okay", stammele ich und werde erneut rot.„Heute Abend? Hier, bei mir? Ich kann für uns kochen und wir sehen uns Memento an", schlägt er vor und mein Herz schlägt einen Purzelbaum. Ernsthaft! Etwas Besseres hätte er gar nicht vorschlagen können!
„Gerne!", sage ich überglücklich.„Super, dann sehen wir uns heute Abend. Ich muss leider noch mal ins Café, weil meine Kollegin, die vorhin eingesprungen ist, bald nach Hause muss. Aber ich denke, ich kann dich nun ein paar Stunden allein lassen?", fragt er nach.
„Klar!", lächele ich und habe beinahe vergessen, aus welchem schrecklichen Anlass wir nun die Chance bekommen, uns besser kennen zu lernen.
Genervt schaue ich eine gute Stunde später aus meinem Küchenfenster. Auf der anderen Straßenseite steht ein weißer Van mit der Aufschrift „Flowers by Irene". Da hatte wohl jemand seine lustigen fünf Minuten!
Die Moser hat also jemanden zu meiner Beschattung vor meiner Wohnung postiert. Ob sie hier auch Wanzen versteckt haben und mein WLAN überwachen? Ich schnaube. Doch ich werde jetzt auch nicht danach suchen. Ich habe nichts zu verbergen und die Suche, die ich grade auf meinem Laptop durchführe, zeigt nur, dass ich mich informieren will.
'Wer ist der Spiegelmörder' steht in der Eingabeleiste meiner Suchmaschine. Natürlich will ich alles über den Mörder wissen, für dessen letztes Verbrechen ich vermutlich verdächtig werde. Schnell werde ich fündig. Der Stadtkurier wird mir zuerst angezeigt. Er enthält die lange Version dessen, was ich schon im Newsflash auf meinem Handy gesehen habe:
„Der Spiegelmörder hat wieder zugeschlagen!
Von offizieller Seite noch nicht bestätigt, doch von unseren Reportern aus sicherer Quelle belegt, hat gestern Nacht der sogenannte „Spiegelmörder" wieder zugeschlagen. Das Opfer, eine 25-jährige Frau, wurde gestern Nacht tot in ihrer Wohnung im dritten Stock aufgefunden.
Wie auch bei den letzten Morden, die diesem Täter zugeschrieben werden, wurde die junge Frau mit einem Kissen erstickt, während sie ihren eigenen Todeskampf im Spiegel mitansehen musste. Diese Methodik brachte dem Serienkiller, auf dessen Konto laut Polizeiangaben bereits vierzehn Morde gehen, auch seinen Namen ein.
Wieder einmal sind keine Spuren am Tatort zurückgelassen worden. Die Polizei ermittelt und ist auf ihre Mithilfe angewiesen. Wenn sie in der Nacht von..."
Der Rest interessiert mich nicht. Ich scrolle durch die älteren Ergebnisse der Suchanfrage. Immer wieder finde ich die gleichen Merkmale: Junge Frau; erstickt mit Gegenständen vom Tatort; das Gesicht einem Spiegel zugewandt. Es waren, den neuesten mit eingerechnet, vierzehn Morde in einem Abstand von knapp zwei Jahren. Der Radius war klar begrenzt; die Morde geschahen nur in dieser Stadt. Was mich sehr wundert.
Wenn ich ein Serienmörder wäre, und ich schüttele mich bei dem Gedanken daran, dann würde ich doch nicht in meiner eigenen Stadt morden. Ich würde doch an verschiedene Orte fahren, meine Opfer verstecken und immer wieder die Methode ändern, damit man mir nicht auf die Schliche kommt. Wer auch immer diese armen Mädchen umgebracht hatte, er müsste ziemlich arrogant sein, um anzunehmen, dass man ihn nicht erwischen würde.
Was mich aber noch viel mehr wurmt, ist der Fakt, dass ich in keinem der Berichte etwas von leeren Augenhöhlen gelesen hatte. Entweder ist das etwas Neues, das erst bei Alex passiert ist, oder - und das konnte ich mir eher vorstellen - ist es ein zurückgehaltenes Detail. Etwas, das nur der Mörder wissen kann. Und nun weiß ich es auch. Ob das gut für mich ist? Oder bringt es mich nur noch mehr in Schwierigkeiten?
Ich entscheide mich dazu, es vorsichtshalber erstmal niemandem anzuvertrauen. Sicher ist sicher.
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THE BLIND SITE - ONC 2023
RomanceIn einer Welt, in der Aussehen und Prestige alles zu sein scheinen, verspricht eine neue Website eine radikale Veränderung. Sie verspricht, dass die Last der Vergangenheit verschwindet und wahre Freiheit nur erreicht werden kann, wenn man den Mut ha...