110 | Theos Wohnung

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„Möchtest du einen Kaffee? Oder lieber einen Tee?" Ich höre, wie die Besteckschublade auffliegt und dann, wie Tassen aneinander klirren.
„Tee klingt super!", antworte ich der Stimme aus der Küche.
„Ich habe auch noch irgendwo etwas zu knabbern im Haus. Oder soll ich uns eine Kleinigkeit kochen?", fragt Theo und steckt kurz seinen Kopf durch die Tür. Vom Wohnzimmer aus schaue ich ihn an.
„Ich glaube, ich kann noch nicht wieder ans Essen denken", gebe ich zu und versuche die Bilder in meinen Kopf auszublenden. Alex, wie sie mit leeren Augen in die Kamera starrt, lässt mir erneut einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

„Okay", meint Theo knapp und verschwindet wieder in der Küche. Während der Wasserkocher brodelt, sehe ich mich um. Seit wir hier angekommen sind, hatte ich noch keine rechte Zeit, den Ort, an den Theo mich gebracht hat, zu erkunden. Dabei liebe ich es, beim ersten Gang durch eine fremde Wohnung all die Dinge zu entdecken, die einem Unbekannten so viel bedeuten, dass er sie in seinem Zuhause nicht missen will. Häufig kann man anhand dieser Schätze erstaunlich viel über die Person, der sie gehören, herausfinden. Wenn man denn genau hinsieht.

Bei dem Gedanken muss ich grinsen. In meiner Wohnung stehen so viel Krempel und Plunder herum, dass man, selbst wenn man es wollte, über mich wahrscheinlich gar nichts Konkretes herausfinden würde. Denn ich sammele einfach alles. Jedes Souvenir aus dem Urlaub, jede Weihnachtskarte von Oma und jedes Ersatzteil eines Gerätes, dass ich vielleicht sogar nicht mehr besitze, wartet geduldig in irgendeinem Karton, Koffer oder Korb darauf, vielleicht irgendwann noch einmal von mir hervorgeholt zu werden.
Dabei würde ich die meisten Dinge nicht mal vermissen, wenn sie auf einmal nicht mehr dort wären. Doch bewusst davon lossagen fällt mir schwer. Vielleicht könnte ich die Dinge irgendwann noch einmal gebrauchen. Oder ich könnte es bereuen, sie vorzeitigweggegeben zu haben. Da denke ich sowohl praktisch als auch emotional.

Theodor tickt da ganz anders. Das merke ich sofort, als ich mich hier genauer umsehe. Seine Wohnung ist ordentlich, beinahe steril. Die meisten seiner Möbelstücke sind weiß und aus Lack. Sicherlich sehr praktisch, um sie sauber zu halten, aber mein Geschmack ist es nicht. Überhaupt fehlt mir ein wenig die Gemütlichkeit. Der einzige Hinweis, dass hier tatsächlich jemand wohnt, ist das gerahmte Foto eines Mischlingswelpen, das prominent auf der Kommode steht. Doch vom echten Hund fehlt jede Spur. Vielleicht gehört er einem Freund?

Verträumt gehe ich am Bücherregal entlang und lasse meine Finger über die Einbände fahren. Sie stehen alle akkurat mit ihren Buchrücken am Rand des Regalbrettes in einer Reihe. Ich grinse.

Was wohl passiert, wenn ich eines von ihnen nach hinten verschiebe?

„Na, gefunden, was du suchst?" Erschrocken zucke ich zusammen, bevor ich mich umdrehe. „Schreckhaft?", lacht Theo und reicht mir einen Becher mit Tee. Ich habe ihn gar nicht kommen gehört.
„Ich war nur in Gedanken", erkläre ich und folge ihm auf das breite Sofa.
„Erzählst du mir, was genau heute passiert ist?", fragt Theo nach einer Weile, in der wir schweigend unseren Tee getrunken haben. 'Gute Frage', denke ich, 'was ist heute eigentlich genau passiert?'

„Wo soll ich anfangen?", frage ich mehr mich selbst als ihn und drehe dabei den leeren Teebecher in den Händen. Er ist noch angenehm warm.
„Warum hat dich die Polizei mitgenommen?", fragt Theo das Naheliegende. Seine Augen suchen und finden meine. Kurz zögere ich. Doch dann entschließe ich mich dazu, mich dem netten Kellner zu öffnen. Ein Vertrauensvorschuss, sozusagen.
„Sie verdächtigen mich, Alex, mein Date von gestern, umgebracht zu haben", erzähle ich und versuche das Bild von Alex leblosen Körper nicht an mich heranzulassen und konzentriere mich stattdessen auf Theo, der mich mitfühlend ansieht.

„Wie ist sie denn gestorben?", hakt er interessiertnach.
„Das weiß ich nicht", gebe ich nachdenklich zu.
„Sie haben es dir nicht gesagt?", fragt Theo ungläubig. Er stellt die leere Tasse auf dem Tisch ab und legt eine Hand auf die Sofalehne. „Sie müssen dir doch erklärt haben, für was sie dich festhalten!", meint er beinahe wütend.
„Man hat mir ein Foto vom Tatort gezeigt", erkläre ich und kurz tauchen die starrenden Augenhöhlen wieder vor meinem inneren Auge auf.
„Und? Wie sah sie aus?"

Ein Schauer läuft mir über den Rücken. „Es war grauenhaft. Ich möchte es gar nicht wiederholen." Theo sieht fast enttäuscht aus. Er soll nicht denken, dass ich ihm nicht vertraue, darum lege auch ich meine Hand auf die Lehne. Unsere Finger sind nur Zentimeter voneinander entfernt. „Ich habe zu dem ganzen Fall so eine Vermutung", flüstere ich fast,  da ich eine ziemliche Angst vor dem habe, was ich gleich sagen werde. Was Theo danach wohl über mich denken wird?

„Ich habe heute Morgen im Café einen Zeitungsartikel gelesen, in dem es um diesen ‚Spiegelmörder' ging, der seit einiger Zeit hier sein Unwesen treibt", beichte ich. "Die Beschreibung des Opfers, passt zu dem, was mit Alex passiert ist! Wenn sie tatsächlich dem Serienkiller zum Opfer gefallen ist, heißt das, dass sie logischerweise mich für einen Serienmörder halten und nun anfangen werden, alles bei mir auf den Kopf zu stellen; mich vielleicht in Untersuchungshaft sperren und mir was anhängen könnten, nur um ihren Mörder zu schnappen! Dabei habe ich mir der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun!", ende ich aufgeregt. All diese Worte sind einfach aus mir herausgesprudelt und ich atme einmal tief ein, um mich wieder zu beruhigen.

„Hey, Simi", lächelt Theo mich zuversichtlich an und seine Finger wandern nun zu meiner Hand auf der Sofalehne und bleiben auf ihr liegen. „Du musst das nicht allein durchstehen. Ich kann dir helfen!" Seine Augen sehen mich unter seinen dunklen Strähnen hindurch an und eine angenehme Wärme fließt durch meine Hand, die von seiner bedeckt wird. Unwillkürlich fühle ich mich gleich ein wenig besser.  „Wir sollten einmal alles durchgehen, was wir bisher wissen, okay? Vielleicht fällt uns gemeinsam etwas auf, was dich entlastet!", schlägt er vor. Zustimmend nicke ich.

„Also," beginnt Theo sachlich, „wo hat man ihre Leiche gefunden?"
„In ihrem Schlafzimmer", sage ich und bin froh, dass ich nicht erzählen, sondern nur antworten muss.
„Und wann ist sie gestorben?", will er wissen.
„Zwischen 22 Uhr und Mitternacht", gebe ich an. Theo nickt und überlegt kurz. Dann geht die Befragung weiter. „Wir waren bis circa neun Uhr in der Bar. Was hast du gemacht, nachdem ich gegangen bin?"

Tatsächlich muss ich kurz darüber nachdenken. Nachdem Theo aufgebrochen ist, habe ich mir bei THE BLIND SITE noch den vorgeschlagenen Match angeschaut. Da Kim schon auf seiner Startseite erwähnte, dass er Superman Batman vorzog, war er keine Option mehr für mich. Entschuldigt bitte, die Diskussion am Samstagabend will ich mir lieber sparen! Danach habe ich gezahlt und bin mit der Bahn zwei Stationen nach Hause gefahren.

„Die Bahn kam um 21:28 Uhr. Das weiß ich noch, weil ich sie fast verpasst hätte. Um circa viertel vor zehn muss ich dann in meiner Wohnung gewesen sein", informiere ich ihn.
„Du hast also zur angegebenen Tatzeit kein Alibi."
„Danke," presse ich leicht genervt hervor, „so weit waren wir schon!"
„Wie kam die Polizei überhaupt auf dich?", stellt Theo die wohl wichtigste Frage. Denn das überlege ich auch schon die ganze Zeit.
„Ich bin anscheinend der letzte, der mit Alex Kontakt hatte."

Theo schaut mich ungläubig an. „Ernsthaft? Die Frau soll gleich nach dem Date im Café nach Hause gefahren und danach niemanden mehr begegnet sein?" Theos Frage bringt mich auf eine Idee.
„Ob man wohl mit Alex Geodaten auch ihren Weg nachvollziehen kann?", überlege ich laut.
„Wieso ‚auch'?", fragt Theo irritiert.

„Die Dating-Website hat der Polizei meine Geodaten und den Chatverlauf mit Alex freigegeben", kläre ich ihn auf. "Daher wusste die Polizei auch, dass wir dieses Date hatten."
„Warum haben die das gemacht? Ist das nicht Datenschutz? Oder war es weil du ihr noch etwas geschrieben hast?", fragt Theo nach.
„Das ist ja grade das Merkwürdige", sagte ich etwas zu laut. „Ich habe ihr nicht geschrieben! Und trotzdem gibt es eine Unterhaltung in unserem Chat, der das Gegenteil beweist." Theo scheint intensiv nachzudenken.

„Hast du noch Zugriff auf die App? Vielleicht kann ich mir das mal ansehen?", fragt er und bereitwillig hole ich mein Handy hervor und öffne den Chatverlauf mit Alex. „Hm," macht Theo, nachdem er die Nachrichten gelesen hat, „es scheint mir nur zwei Möglichkeiten zu geben." Er sieht mich besorgt an, bevor er weiterspricht. „Entweder hat jemand deinen Account gehackt..."
„Was überhaupt keinen Sinn ergibt!", unterbreche ich ihn. Es weiß doch außer meinen Dates keiner, dass ich im Internet auf Bräutigam-Schau gehe.

„Oder," fährt er fort und sieht mich etwas unsicher an, „du bist es selbst gewesen und hast es vergessen."

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