Theodor hat tatsächlich sein Wort gehalten und mir nach seiner Schicht vorgeschlagen, noch in seiner Lieblingsbar etwas trinken zu gehen. Da sie nicht weit vom Café entfernt ist, nutzen wir die Zeit für einen Spaziergang. Obwohl die Sonne allmählich an Kraft verliert, wandern wir unter einem noch immer wolkenlosen Himmel und ich schicke einen stillen Dank nach oben. Mein schon ins Wasser gefallen geglaubtes Date hat sich anscheinend doch noch zum Guten gewendet.
Als wir eine kleine Anhöhe hinaufkommen, erscheint am Horizont die Silhouette der Großstadt, die sich majestätisch gegen den langsam immer rötlicher werdenden Himmel abhebt und meine aufgeregte Stimmung ein wenig mehr ins Romantische driften lässt. Die Bäume, die sich unter uns wie ein Teppich in der Landschaft ausbreiten, sind voll von hell- und dunkelgrünen Blättern, die vereinzelnd goldene Sonnenstrahlen tragen und sich sanft in einer frischen Sommerbrise hin und her wiegen.
'Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!',geht mir ein Zitat durch den Kopf und ich schaue scheu zu Theodor, der schweigend und anmutig neben mir her geht, als ob ihm das Land unter seinen Füßen gehört. Sein stolzer Gang und sein klarer Blick harmonieren erstaunlich gut mit seiner hoch gewachsenen Statur und seinen markanten Gesichtszügen und ich kann Alex nicht verdenken, dass sie, bei der Aussicht, sich mit ihm, statt mir zu treffen, sofort angebissen hat. Doch das Universum hat es gut mit mir gemeint und mich an diesem Abend an seine Seite gestellt. Ob er das auch so sieht?
„Glaubst du an das Schicksal?", frage ich Theodor in die Stille. Anscheinend trifft ihn meine Frage unvorbereitet, denn er zögert mit der Antwort und während er mich überlegend ansieht, sehe ich ihm in die Augen. Es ist verrückt; ich kann mich einfach nicht entscheiden, welches mir besser gefällt: Das blaue strahlt Vertrauen und Sicherheit aus und verspricht mir genau das, wonach ich mich schon so lange sehne; das grüne hat ein gewisses Feuer und Leidenschaft und macht mir Hoffnung auf ein wildes Abenteuer, das meine Lebensgeister wieder erweckt. Beide Optionen haben ihren ganz eigenen Reiz. Doch bevor ich diese Frage für mich beantworte, muss ich wohl auch die Frage stellen, was er mir davon wirklich bieten kann.
"Ich persönlich glaube, dass das Schicksal existiert und dass bestimmte Dinge vorherbestimmt sind", offenbart Theodor plötzlich. "Allerdings denke ich auch, dass wir durch unsere Entscheidungen und Handlungen das Schicksal beeinflussen können. Es muss eine Art Gleichgewicht geben zwischen dem, was vorherbestimmt ist und dem, was wir selbst beeinflussen können. Dennoch finde ich die Vorstellung, nicht selbst Herr über mein eigenes Leben zu sein, etwas unangenehm", gibt er zu.
„Mir auszumalen, eine höhere Macht bestimme über mein Handeln oder die Menschen, denen ich im Leben begegne, macht mir Angst. Was ist, wenn diese Macht sich vertan hat und mir etwas gibt, was mir schadet? Im ersten Augenblick vielleicht noch begehrenswert, doch dann vielleicht das genaue Gegenteil? Aber letztendlich ist das Schicksal ein komplexes Konzept und jeder hat seine eigene Sichtweise darauf", endet er diplomatisch lächelnd.
Ich staune über seine Antwort. Wahrscheinlich habe ich eher mit einem simplen ‚Ja' oder ‚Nein' gerechnet. Aber es gefällt mir, dass er mich mit seinen Überlegungen überrascht.
„Und wenn es gar nicht dein Schicksal war, sondern meines, das dich zu meiner Rettung an meinen Tisch geführt hat?", frage ich provokant. Nur, weil er nicht möchte, dass das Schicksal sein Leben beeinflusst, muss das ja nicht auf mich zutreffen.
„Man darf nicht den Fehler machen und Schicksal mit Glück verwechseln", lächelt er schelmisch. "Denn auch wenn diese Konzepte sich sehr ähneln, sind sie doch zwei Seiten desselben Spiegels. Wenn man hineinsieht, denkt man, dass sie gleich sind. Doch wenn man hindurchsieht, merkt man, dass sie Unterschiede haben. Trotzdem können sie eng miteinander verwogen sein, so wie unsere Begegnung das Resultat einer glücklichen Fügung des Schicksals sein kann. Doch die höchste Form des Glücks", sagt Theo und grinst zufrieden, als er mich ansieht, „ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit. Und dass wir uns in meinem Café bei deinem Date getroffen haben, ist wirklich verrückt."
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THE BLIND SITE - ONC 2023
RomanceIn einer Welt, in der Aussehen und Prestige alles zu sein scheinen, verspricht eine neue Website eine radikale Veränderung. Sie verspricht, dass die Last der Vergangenheit verschwindet und wahre Freiheit nur erreicht werden kann, wenn man den Mut ha...