„Deine neue Freundin, die hat ein sehr nettes Lächeln.", sagte Charlie, als wir zusammen in der kleinen Küche standen und Gemüse für die Suppe schnippelten. „Mit rosa Haaren?". Er schüttelte energisch mit dem Kopf, während er gekonnt die Zwiebeln im Topf schwenkte. Nachdem meine Mutter uns von heute auf morgen verlassen hatte, hatte es Wochenlang nur Nudeln mit Ketchup gegeben, bis er einen Kochkurs belegt hatte. Aber eigentlich war dieses einfache Gericht immer noch mein Lieblingsessen.
„Ich meine die mit der roten Pudelmütze, Julia?". Ein heimliches Lächeln stahl sich ganz automatisch auf mein Gesicht. „Juniper. Du müsstest mal sehen, wie sie sich über die Kleinigkeiten im Leben freut. Marienkäfer, Schneewittchenäpfel, Nieselregen, der auf der Haut kitzelt. Ihre Augen fangen dann an so richtig zu leuchten! Und wenn sie über die Lieblingscharaktere aus ihren Büchern spricht, wünscht man sich, man wäre einer von ihnen.". Leider hatte ich mich so in Rage geredet, dass ich beim Schneiden die Möhre verfehlte und stattdessen meinen Finger traf. Es war ein fieser Schnitt, einer der so richtig doof brannte. Ich setzte mich auf den wackeligen Küchenstuhl, während Charlie im Badezimmer nach Pflastern kramte. Wir bekamen nicht oft Besuch, deswegen hatten wir auch nur zwei. Und einen Klappstuhl im Abstellraum, falls doch mal jemand vorbeischaute. Unsere Wohnung war nicht groß, aber groß genug um sich manchmal einsam zu fühlen.
„Hat sich nicht viel verändert, was?", sagte er, während er mir behutsam ein Kinderpflaster an den Finger klebte. Es hatte ein Einhornmotiv. „Mein Daumen ist vielleicht ein bisschen größer geworden, aber nur vielleicht.". Er lächelte ein typisches Papalächeln, eine Mischung aus Sentimentalität und Stolz, und wuschelte mir durch die kinnlangen Haare. Ob ich ihn manchmal an meine Mutter erinnerte, an seine Frau?
Wie damals saß ich an dem schiefen Tisch und schaute Charlie beim Kochen zu, weil ich nicht auf mich geachtet hatte. Weil ich den Fokus verloren hatte. Und deswegen seit Jahren mal wieder ein Einhornpflaster an meinem Finger klebte. So wie früher. Die Küchenuhr tickte langsamer, der Basilikum auf der Fensterbank war inzwischen vertrocknet. Alles war doch irgendwie vergänglich.
„Also Juniper, richtig oder?", ich nickte bestätigend, „hast du sie zum Gig eingeladen?". Er stellte zwei Teller dampfende Kürbissuppe auf den Tisch. „Ja, es ist zwar noch ein paar Tage hin aber irgendwie bin ich jetzt schon nervös.". Gedankenverloren stocherte ich mit meinem Löffel in dem Essen. Was, wenn sie unsere Musik gar nicht mochte? Oder schlecht fand? Normalerweise war ich vor Auftritten ziemlich entspannt, nur dieses Mal nicht. „Du bist immer gut, mach dir keine Sorgen.", Charlie tätschelte meine Hand, nachdem er seine Portion bereits aufgeschlürft hatte. Manchmal aß er wirklich wie ein Ferkel. „Ich möchte aber perfekt sein. Für sie.".
Spät am Abend saß ich auf dem Fensterbrett und rauchte die letzte Zigarette des Tages. Ich stieß den Rauch in die klare Nachtluft und sah dabei zu, wie er in der Dunkelheit verschwand. Es schmeckte nicht wirklich gut, aber während das Nikotin in meiner Lunge brannte, war alles andere für einen Moment betäubt. Weder der Mond, noch die Sterne waren zu sehen. Dadurch fühlte ich mich ein bisschen mehr einsam, als sonst. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, dass Juniper mir jetzt gegenüber säße. In einem Pullover von mir. Wahrscheinlich hätte sie mir die Zigarette ausgedrückt und mir erklärt, welche unterschiedlichen Farbtöne die Nacht nur hatte, wenn man genau hinsah. Aschgrau und Kobaltblau vielleicht. Dann würde sie mir sagen, dass meine Augen im Dunkeln wie Kieselsteine im Wasser aussahen. Wie sie es in Manhattan getan hatte. Und ich würde sie küssen. Wie ich es noch nicht getan hatte.
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a n o m a l i e
General Fictionals juniper im augustnebel nach einem abenteuer sucht, findet sie elma mit dem tiger-tattoo. zwischen schallplatten, selbstfindung und herbstblättern entdecken die beiden die facetten der liebe. oder was auch immer liebe sein mag. anomalie; eine abw...