Am Nikolaustag hatten wir unser erstes, richtiges Date. Jedenfalls hatte Elma es so genannt, als sie mich nach der Arbeit mit dem alten Opel Corsa abgeholt hatte. Ich wusste nicht, wo wir hinfuhren, aber immer weiter weg von den Engen der Kleinstadt. Sie hatte eine CD von Clairo eingeschoben und vorsichtig eine Hand auf meinem Oberschenkel platziert. „Ich glaub, ich hab Sommerweh. Oder Sommerkummer.", durchbrach ich die Stille. Nicht, dass es unangenehm gewesen wäre, aber ich wollte Elma an meinen Gedanken teilhaben lassen. „Sommerkummer, was soll das dein?". Sie malte kreise mit ihrem Daumen auf meine Strumpfhose. „Naja, wie Liebeskummer. Nur mit Sommer.". Ich beobachtete den Wackeldackel vor mir, wie er mit dem Köpfchen von links nach rechts schwenkte. Links, rechts. Links, rechts.
„Halt dich gut fest!". Plötzlich lenkte sie den Wagen einfach von der Landstraße. Ängstlich krallte ich mich an dem Sitz fest. Wir holperten unkontrolliert über ein Feld, bis wir irgendwo in der Mitte zum Stehen kamen. Der Wackeldackel war umgekippt. Noch bevor ich mich beschweren konnte, legte sie einen Finger auf meine Lippen. „Hier ist perfekt.". Dann stieg sie aus und öffnete den Kofferraum, der in neun von zehn Fällen klemmte. Während ich noch den Schock verarbeiten musste, kramte Elma Sachen aufs Autodach. „Voilà Mademoiselle, das Festmahl ist angerichtet.", sie half mir aus dem Auto und machte eine Räuberleiter. Hätte ich sie belehren wollen, hätte das sowieso nicht funktioniert, also kletterte ich nach oben. Es fühlte sich einfach nur falsch an. Sie stieg über die Motorhaube zu mir aufs Dach und leuchtete mit einer Taschenlampe auf das Festmahl; vegetarisches Sushi aus dem Supermarkt, Wein im Tetrapack und eine Packung Brause-Ufos. Könnte deutlich schlechter sein.
Wir befanden uns mitten im Nirgendwo, aber wir waren nicht einsam, denn wir hatten einander, die Sterne und den Vollmond über uns. Außer dem Rauschen einer entfernten Autobahn war es still. „Kennst du eigentlich die drei legendären J's der Musik?", fragte Elma. Sie lag mit ihrem Kopf in meinem Schoß, während ich ihr sanft über die Haare strich. „Jimi, Janis und Jim? Natürlich.". Ich musste mir ein Lachen verkneifen, schließlich hatte ich das Ganze nur Charlie zu verdanken. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Das ist gut. Sogar sehr gut.". Die Sternbilder spiegelten sich in ihren Augen wieder. Mit dem Pegasus direkt über uns.
„Meine Oma möchte dich gerne kennenlernen, am besten bald, sonst ist von mir nicht mehr so viel übrig.". Elma tat so, als würde sie einen imaginären Kalender aus ihrer Jackentasche ziehen und darin blättern. „Ich denke, das lässt sich einrichten", sie steckte den Kalender zurück, „du redest nicht oft über deine Familie.". Sofort bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Was gab es da auch schon großartig zu erzählen? Alles ein bisschen kompliziert eben, sonst nichts. „Du auch nicht.", entgegnete ich. Unsere Finger verschränkten sich miteinander. Es herrschte ein stilles Einverständnis.
Als es uns zu kalt wurde, kuschelten wir uns mit einer Decke auf die Rückbank des Autos. Eng, aber warm. Elma zückte eine Taschenlampe und ein Buch aus dem Handschuhfach. „Es ist mein Lieblingsbuch, schon immer. Seitdem meine Mutter es mir zum Schlafengehen vorgelesen hat.". Liebevoll fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über den Schriftzug. Der kleine Prinz. Das Exemplar war schon ziemlich abgegriffen, mit mehreren Flecken und Rissen auf dem Cover. „Ich weiß gar nicht, warum ich es so gerne mag. Vielleicht liegt es an der Kindheitserinnerung, vielleicht an der Sehnsucht jemandes Rose sein zu wollen. Dabei sind die mir viel zu kitschig.". Sie wäre eine hübsche Rose, in meinen Augen die Schönste. Bordeauxrot, mit ein paar Stacheln.
Elma schlug das Buch an einer beliebigen Stelle auf, während ich kleine Zöpfe in ihre Haare flocht. Dann begann sie zu lesen: „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können...".
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a n o m a l i e
General Fictionals juniper im augustnebel nach einem abenteuer sucht, findet sie elma mit dem tiger-tattoo. zwischen schallplatten, selbstfindung und herbstblättern entdecken die beiden die facetten der liebe. oder was auch immer liebe sein mag. anomalie; eine abw...