Vor den Weihnachtsferien wurde alles ein bisschen stressiger; die letzten Klausuren mussten geschrieben werden, im Teeladen war mehr los als sonst und auch Zuhause gab es den altbekannten Feiertagsstress, der sich langsam aufbaute. Und Elma war mein Rettungsring. Nicht, dass ich gerettet werden müsste, aber wenn man im offenen Meer aus Weihnachtsgeschenken und Streitereien Angst hatte unterzugehen, war es besser jemanden zu wissen, der mit Rettungsring bereit stand, einen wieder in den sicheren Hafen zu führen.
Charlie und ich verstanden uns gut. Wir spielten einander oft Musik vor, in der Hoffnung, dass der Andere die Lieder noch nicht kannte. Wobei er meistens mehr Glück hatte. So war es auch heute Abend, nach der Arbeit war ich direkt zu Charlies Records rüber gegangen. Immerhin besiegte ich ihn immer bei den Brettspielen, die seine zweite Leidenschaft waren. „Schon wieder, ich glaub's nicht! Eigentlich müsste ich dich hassen!", er räumte die Monopoly-Spielfiguren wieder ein, „nur dafür mag ich dich viel zu gern.". Ich schenkte ihm ein warmherziges Lächeln. Charlie war wie der coole Onkel, den ich mir früher immer gewünscht hatte. Elma kam aus der Küche, gab mir einen Kuss auf die Stirn und stellte einen Teller mit geschmierten Broten vor uns ab. „Nicht, dass ihr euch noch überanstrengt.", sagte sie und setzte sich neben mich auf den Teppichboden. Ich lehnte mich an Elma, Charlie befreite währenddessen den Couchtisch von den zahlreichen Spielkartons. War es möglich, dass man sich bei eigentlich fremden Menschen wohler fühlte, als bei seiner eigenen, blutsverwandten Familie?
Der Axolotl grinste mich an und ich grinste zurück. Das Aquarium tauchte Elmas Zimmer in blaues Licht. „Keine Sorge, ich passe nur für eine Freundin auf ihn auf.". Sie schaute von der anderen Seite durch das Glas und unsere Blicke trafen sich. Angesichts der vertrockneten Kakteen auf der Fensterbank war dies wohl eine semi-gute Idee. Aber bisher war er ja noch am Leben. Es entstand eine kurze Schweigepause, in der wir beide den Unterwasserpflanzen zuschauten, wie sie schwerelos ihre Blätter tanzen ließen. „Ich hab keine Lust auf Weihnachten. Als Kind mochte ich es, jetzt nicht mehr." Elma nickte zustimmend. „Weihnachten ist ein Fest der Christen und Kapitalisten. Ich bin keins von beiden.".
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, saßen meine Eltern ungewohnter Weise zusammen am Küchentisch. Sie winkten mich zu sich heran und ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Nervös rutschte ich auf dem Stuhl hin und her. „Uns ist aufgefallen, dass du oft weg bist, auch über Nacht. Hast du vielleicht einen Freund? Du kannst es uns ruhig sagen, wir würde ihn gerne kennenlernen.", meinem Vater war das Thema sichtlich unangenehm. Ein Coming-out hatte ich nie in Erwägung gezogen. Sie würden es wahrscheinlich akzeptieren, jedoch einfach darüber hinwegsehen. „Ich habe keinen Freund. Aber ich hab eine neue Freundin kennengelernt, sie mag Lesen genauso sehr wie ich.". Sie musterten mich misstrauisch, dabei war es doch die Wahrheit. „Lade sie doch mal zum Abendessen ein.", schlug er vor. Meine Mutter saß nur stumm daneben. Ihre Augenringe wirkten im schummrigen Licht der Lampe noch tiefer.
Ich hatte Elma extra zum Pfannkuchenessen eingeladen, als sie nicht Zuhause gewesen waren. Natürlich würde ich mir wünschen, dass wir irgendwann alle gemeinsam und glücklich am Küchentisch sitzen würden, aber das war unrealistisch. Meine Mutter würde bei jeder Zärtlichkeit demonstrativ wegschauen, wenn nicht sogar in Tränen ausbrechen. Und mein Vater? Der würde betreten zu Boden schauen. Vielleicht waren meine kleinen Geschwister eine weniger große Enttäuschung, als ich.
„Ich werde sie mal fragen.". Das würde ich nicht. Ich stand vom Tisch auf und niemand hielt mich zurück. Das Gespräch war nicht beendet, aber keiner traute sich das zu sagen, was er eigentlich wollte. Wir schwiegen uns an, so wie immer.
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a n o m a l i e
General Fictionals juniper im augustnebel nach einem abenteuer sucht, findet sie elma mit dem tiger-tattoo. zwischen schallplatten, selbstfindung und herbstblättern entdecken die beiden die facetten der liebe. oder was auch immer liebe sein mag. anomalie; eine abw...