14. Kapitel

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Langsam zog ich Kreise auf dem zugefrorenen See. Die Kuven der Schlittschuhe, die ich mir in der Turnhalle geholt hatte, zeichneten dünne Linien auf das noch unberührte Eis. Eine grüne Fahne, die am Rand des Sees an einem Pfahl befestigt im leichten Wind flatterte, gab den Schulsee zum Schlittschuhlaufen frei. Außer mir war jedoch niemand hier. Es war gerade einmal der 27. Dezember und nur ein paar handvoll Schüler waren bereits wieder im Internat. Von meinen Freunden oder gar Stephen war noch niemand darunter. Ich nahm gerade Anlauf um eine etwas engere Kurve hinzulegen, als auf einmal mein Handy klingelte. Durch den kurzen Schrecken etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hielt ich schlitternd an und fummelte mein Handy aus der Jackentasche. "Hey, Stephen.", nahm ich das Gespräch entgegen. "Hey, Tony.", begrüßte er mich seinerseits. "Was ist denn los, wieso rufst du mich an?", wollte ich wissen und fuhr wieder langsam los. "Ich wollte wissen wo du bist.", erwiderte Stephen. Hieß das, dass er wieder an der Schule war? "Ich fahre auf dem See hinter dem Schulgebäude Schlittschuh.", antwortete ich in Vorfreude. "Willst du hinter kommen?" "Bin gleich da.", meinte Stephen, bevor er auflegte. Lächelnd steckte ich mein Handy zurück in die Jackentasche und fuhr ein paar glückliche Schlenker. Eine Gestalt, die um das Schulgebäude herumkam und dann den Weg am Rand des Sees entlang lief, ließ mich erneut stoppen. Stephen hatte seine Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben und sich eine Beanie tief in die Stirn gezogen. Ich fuhr zum Ufer und er blieb vor mir stehen. Er bedachte mich mit einem undeutbaren Blick, bevor er zu mir trat und mich in eine etwas zu feste Umarmung zog. Ich erwiderte sie glücklich, doch schließlich musste ich mich fast gewaltsam daraus befreien. Etwas verwirrt sah ich Stephen an, der meinem Blick auswich. Er hatte immer noch diesen undeutbaren Gesichtsausdruck. "Stephen, ist alles okay?", wollte ich wissen. Irgendetwas war los. "Ja, es ist alles gut.", meinte er und wandte das Gesicht ab. "Ich sehe doch, dass das nicht stimmt.", entgegnete ich und drehte seinen Kopf wieder in meine Richtung. "Du würdest lachen.", sagte Stephen etwas niedergeschlagen. "Hey, ich würde doch nie über dich lachen.", versicherte ich ihm sofort eilig. Wie kam er auf so etwas? Trotzdem gab er keine Antwort. Ich legte Stephen eine Hand auf den Arm. "Bitte sag mir was los ist.", bat ich. Er seufzte. "Ich habe Angst. Angst vor zugefrorenen Seen und um dich, wenn du darauf Schlittschuh läufst.", eröffnete er mir. Ich nickte verstehend. "Ich weiß, dass das unsinnig ist, aber ich werde diese dunkle Furcht nicht los.", meinte er zerknirscht. Hilflos schenkte ich ihm ein aufmunternd gemeintes Lächeln, bevor mir eine Idee kam. Sie war dämlich und wahrscheinlich würde Stephen nicht mitmachen, doch einen Versuch war es wert. "Vertraust du mir?", fragte ich und er nickte. Damit ich es mir doch nicht wieder anders überlegte schnappte ich mir schnell meine Schuhe und tauschte die Schlittschuhe gegen sie ein. "Warte hier.", wies ich Stephen an, bevor ich zur Turnhalle rannte. Als ich wiederkam hielt ich ein neues Paar Schlittschuhe in der Hand. Als Stephen sie sah, versteifte er sich. Er wusste was ich vorhatte. "Tony, ich glaube nicht, dass-", begann er, doch ich wiederholte nur: "Vertraust du mir?" Mit langsamen Bewegungen zog Stephen die Schlittschuhe an, die Gott sei Dank passten. Dabei machte er einen eher gequälten Gesichtsausdruck. Doch schließlich standen wir beide auf Kuven da. Sofort machte ich einen Schritt aufs Eis und fuhr einen kleinen Kreis. Stephen stand wie eine Salzsäule am Ufer. Ich trat an ihn heran und bat ihm meinen Arm an. Er nahm ihn und hielt sich geradezu krampfhaft an mir fest, als er den ersten Schritt aufs Eis machte. "Es ist alles gut, dir passiert nicht. Ich bin da.", murmelte ich ihm zu. Eng zusammen machten wir zuerst sehr kleine, zaghafte Schritte, doch mit der Zeit schien Stephens Körper sich an die Bewegungen zu erinnern und wir ließen immer mehr voneinander ab, bis wir uns nur noch an der Hand hielten und langsam nebeneinander her weite Runden drehten. Es machte mir nichts aus, dass ich nicht schnell und im Zickzack übers Eis zischen konnte, viel lieber lief ich mit Stephen. "Kannst du mich mal loslassen?", fragte er auf einmal und völlig überrascht ließ ich sogleich seine Hand los. Ohne mich als Sicherheit schwankte er kurz bevor er sich wieder fing und zuerst noch etwas zaghaft doch dann immer schneller und zielstrebiger begann, Runden auf dem See zu laufen. "Du hast es!", rief ich und setzte mich ebenfalls in Bewegung um aufzuholen. Mit kindlicher Begeisterung und einem breiten Grinsen schaute Stephen mich an, doch die kurze Ablenkung des Blickes zu mir reichte, um ihn zum Straucheln zu bringen. Reaktionsschnell griff ich zu und erwischte Stephen an der Jacke. Ich hielt ihn fest umschlungen und brachte uns zum Stehen. "Sieben Jahre sind wohl doch eine zu lange Pause.", lachte er und schob sich die Mütze etwas zurück. "Dann fang ich dich eben wieder auf.", entgegnete ich, ebenso ein Lachen auf den Lippen. Warm sah Stephen auf mich herunter, bevor er sich zu mir hinabbeugte und mich küsste. Als er sich wieder von mir löste fragte er: "Wollen wir reingehen? Mir wird nämlich langsam kalt." Ich nahm ihn wieder an der Hand und langsam fuhren wir wieder zum Ufer, wo unsere Schuhe standen. "Nichts lieber als das.", antwortete ich.

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