Am nächsten Morgen schüttete es wie aus Eimern. Der Boden war wie ein einziges Meer. Die weniger überfluteten Stellen waren wie Inseln, die das Wasser manchmal unterbrachen. So sehr regnete es. Komplett durchnässt bahnte ich mir einen Weg, vorbei an den riesigen Pfützen. Doch ich konnte nicht jeder ausweichen. Die Autos spritzten das Wasser auf den Fußweg, sodass jeder möglichst weit links lief.
Zudem konnte ich kaum etwas hören. Der Regen schlug zu doll auf meinen Schirm. Ich wusste nicht, warum ich ihn überhaupt benutzte. Vielleicht einfach aus Prinzip, denn bringen tat er nicht viel. Er schützte nur meine Haare etwas, wenn er nicht gerade durch den Sturm nach hinten geklappt wurde. Der Stoff meiner Schuluniform klebte an meinem Körper. Ich seufzte.
Egal wie sehr ich Wasser mochte, Regen konnte ich nicht ausstehen. Heiße Sonnenstrahlen auf der Haut waren mir viel lieber als übel riechende Regentropfen. Der Geruch war für mich unerträglich. Ich vermisste die Zeit, die wir in Kalifornien gelebt hatten, auch wenn unser Aufenthalt dort unschön endete.
Ich sehnte mich nach den weiten Sandstränden, die nicht weit von unserem Haus entfernt lagen. Oft war ich noch abends eine Stunde rausgegangen und hatte dem Rauschendes Meeres gelauscht. Zwar gab es auch hier in Shizuoka Strände, allerdings wohnten wir weit weg von der Küste, weshalb ich noch nicht dort war. Es war auch eindeutig zu kalt. Fürs Schwimmen blieb mir bis zum Sommer wohl erst mal nur die Schwimmhalle.
Mittlerweile hatte ich den größten Teil meines Schulwegs überwunden. Nur noch einmal um die Ecke gehen und dann würde ich endlich die Schule erreichen. Ich konnte es kaum abwarten, von warmer Heizungsluft umgeben zu sein, denn obwohl das Gebäude von außen kühl wirkte, waren die Räume gut beheizt.
Ich erinnerte mich an keinen Moment, an dem mir zu kalt oder zu heiß war. Die Temperatur war stets perfekt. Solange Tanaka nicht in der Nähe war. Jedes Mal, wenn ich sie sah, fühlte ich mich plötzlich wie in einem Kühlhaus.Ihr überraschendes Auftreten im Café gestern schwirrte noch immer in meinem Kopf, auch wenn ich versuchte, es abzuschütteln. Es blieb stets in meinem Hinterkopf und verfolgte mich. Wie eine nervige Fliege, die bei jedem Versuch der Klatsche entwischte. Das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, wurde jeden Tag schlimmer. Als würde sie mir ganz genau auf die Finger schauen. Ich hatte Angst, Fehler zu machen.
Gedankenverloren bog ich an der Ecke ab, doch plötzlich konnte ich nichts mehr sehen.
Ich blieb abrupt stehen. Mein Körper war sofort im Überlebensmodus. Adrenalin rauschte durch meine Adern. Ich hielt den Atem an. Doch dann spürte ich, was meine Sicht blockierte. Es war Haut, Haut von einer Hand, die feucht vom Regen war. Jetzt wusste ich, wer es sein musste. Ich drehte mich um und sah in das lachende Gesicht von Sumiyo.„Sumiyo!", schrie ich noch schwer atmend und hielt mir die Hand vor die Brust. „Erschreck mich doch nicht so!"
„Du bist aber auch wirklich schreckhaft!", kicherte sie. „Aber ich freue mich, dich noch vor dem Unterricht zu sehen. Meine Bahn kam heute SO spät erst an. Ich wäre fast wieder nach Hause gegangen!"
Ich hatte mich schon gewundert, wo Sumiyo war. Sonst trafen wir uns meistens kurz, nachdem ich aus der Bahnstation kam, jedoch war sie heute nicht da gewesen.
Sie trug ein leicht transparentes, weißes Regencape, das ihr beinahe bis zu den Knöcheln ging. Zusätzlich hatte sie einen pinken Regenschirmaufgeschlagen, allerdings waren ihre Haare nicht trocken geblieben. Nach meinen Erfahrungen mit einem Regenschirm bei dem Wetter konnte ich mir vorstellen, dass auch ihrer dem Wind nicht standhalten konnte.
„Ja, meine kam auch ein paar Minuten zu spät", antwortete ich. „Ich glaube, es gab ein Problem mit den Gleisen ..." Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Ich erinnerte mich daran, eine Durchsagegehört zu haben, jedoch war ich mir unsicher, ob es wirklich ein Problem mit den Gleisen gab.
Da wir beide nicht noch nasser werden wollten, beschlossen wir, drinnen weiter zu reden. Zusammen eilten wir die letzten Meter bis zur Schule, durch den niemals zu enden scheinenden Regen.
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Erleichtert atmete ich aus, als wir endlich durch die quietschende Tür in das Schulgebäude traten. Sumiyo zog ihr Cape aus und schüttelte es aus. Das Wasser triefte wie ein Wasserfall auf den Steinboden.
Ich machte dasselbe mit meinen Regenschirm und hing ihn dann in meinen Spind, wo ich auch meine Schuhe wechselte. Draußen war es mir noch nicht aufgefallen, aber auch meine Schuhe waren bis zu den Socken durchnässt.„Heute haben wir im zweiten Stock, oder?", fragte Sumiyo, während wir die Treppe hoch liefen. Ich nickte. Die Lehrer hatten heute Morgen eine Nachricht herumgeschickt, dass das dritte Stockwerk aufgrund des Brands gesperrt sei. Sumiyo hatte recht gehabt.
Das Feuer war tatsächlich vom schulinternen Labor der OGPA ausgegangen. Es sei jedoch so stark gewesen, dass es auch auf die anschließenden Räume übergesprungen war. Darunter waren auch die, in denen wir heute OGPA-Technik und Partikelforschung hatten.Deshalb war ein angepasster Raumplan in die Gruppe geschickt worden. Sumiyo holte ihr Handy hervor und schaute nach, zu welchem Raum wir genau mussten. Eigentlich durften wir unser Handy in der Schule nicht benutzen, jedoch interessierte Sumiyo das nie.
„208...", murmelte sie, und, als wir uns der offenen Tür näherten, entfuhr ihr ein Seufzer. „Ach, der Raum ist das. Ich hatte letztes Jahr hier Japanisch. Es ist so kalt darin!"
Sie steckte ihr Handy wieder weg und wir gingen ins Klassenzimmer. Direkt beim Betreten merkte ich, dass der Raum sich anders anfühlte als die restlichen. Es könnte normal für den zweiten Stock sein. Da ich hier noch nie Unterricht hatte, konnte ich es nicht sagen. Allerdings fühlte ich mich unwohl.
Die Einrichtung war alt. Das Holz der Tische und Stühle hatte offensichtliche Macken und Kratzer. Das Licht war gelblich und hinten war eine Lampe kaputt. Das high-tech Whiteboard vorne wirkte fehl am Platz in diesem heruntergekommenen Raum. Außerdem war es kalt. Der Regen haute heftig gegen die Fenster und ich hörte ein Zischen, wobei es sich wahrscheinlich um Wind handelte, der durch die undichten Fenster drang.
Meine Motivation für den Unterricht war definitiv auf ein Minimum gesunken.
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Death's Eyes
Fantasy"Obwohl braune Augen Wärme ausstrahlten, erkannte ich in diesen nur den Tod." Lewis hat die Chance auf das Leben seiner Träume. Trotz seiner Halluzinationen könnte er ein ganz normales Leben führen. Doch eine mysteriöse Begegnung droht seine ruhige...