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Vor meinen Augen begannen die falschen Tasten zu brennen. Ich starrte auf das Notenblatt. Meine Finger flogen über die Tastatur. Die Flammen stachen in meine Haut. Ich konnte sie nicht treffen. Ich durfte die falschen Töne nicht spielen. Das tat ich auch nicht. Es hörte sich gut an. Doch gut war noch nie genug gewesen.

Unendlich oft spielte ich dasselbe Musikstück an diesem Abend, sodass im Bett meine Hände ein Eigenleben entwickelten. Ich konnte noch immer spüren, wie die verkrampft die Tasten hinunter zwangen. So erging es mir jeden Tag, fast eine ganze Woche lang. Ich perfektionierte jeden Ton. Sumiyo sah ich in der Zeit nur in der Schule. Ich könne ja nach dem Aufritt wieder genügend Zeit mit ihr verbringen. Das müsse reichen, hatte sie gemeint. Nicht einmal zum Schwimmtraining durfte ich. Immerhin gehe es um meine Zukunft.

Für mein Ich von vor einem Monat wäre es auch mehr als ausreichend gewesen. Allerdings fühlte ich mich in der Woche wie in einer Wüste. Mein Wasservorrat war leer, mein Mund trocken.
Den ersten Tropfen Wasser erhielt ich einen Tag vor dem Auftritt. Ich musste nur am Abend üben, weshalb ich den ganzen restlichen Tag Zeit hatte, mich mit Sumiyo zu treffen. Auf schnellstem Wege war ich zu meinem Handy gesprintet, als meine Mutter mir das gesagt hatte.

Am nächsten Nachmittag traf ich mich dann mit Sumiyo. Wir waren bei der Yunoki Station ausgestiegen und auf direktem Weg zur nächsten Karaokebar gelaufen. Eh ich mich versah, stand ich vor einem Bildschirm und sang die neusten J-Pop Songs.
Anfangs klang das, was ich von mir gab, eher nach Summen. Später kamen allerdings auch aus meinem Mund ganze Wörter. Getrieben von Sumiyos unwiderstehlicher Energie performte ich lachend einen Song nach dem anderen, bis sich die Energie wieder legte. Ich war wie ein Vogel gewesen. Frei. Bis zum nächsten Tag, an dem ich wieder in meinen Käfig gesperrt wurde. 

Ich strich das perfekt geschneiderte Jackett vor dem Spiegel gerade. Zusammen mit der schwarzen Anzughose war es genau auf meine Maße angefertigt worden. Die himmelblaue Krawatte steckte sorgfältig unter der Jacke und meine Haare bewegten sich kein Stück mehr aufgrund des vielen Gels.
In der Spiegelung sah ich meine Mutter in ihrem neuen marineblauen Kleid die Tür öffnen und auf mich zukommen. Ihre High Heels hauten gegen den Holzboden, als sie hinter mir stehen blieb. Sie legte die Hände auf meine Schulter und sagte: „Schau dich nur an, mein Junge! Der Anzug passt wie angegossen! Nun musst du gleich nur auch so gut spielen wie du aussiehst."

„Ihren Jungen" nannte sie mich nur, wenn es um etwas Wichtiges ging, wo ich Leistung zeigen musste. Breit grinsend strich sie die Schultern meines Jacketts grade und entfernte einen unsichtbaren Fussel vom Stoff.

„Wir fahren in fünf Minuten los", sagte sie und schritt wieder aus dem Raum. Ich musste die Krawatte lockern, als sie das Zimmer verlassen hatte. Ich schluckte meine Wut hinunter und folgte ihr in den Flur.

Nachdem ich meine Haare ein letztes Mal im Flurspiegel gerichtet hatte, verließen wir das Haus. Ich setzte den ersten Schritt nach draußen und erblickte das Auto, das mich zu dem Aufritt bringen würde. Heute könnte meine Zukunft in Stein gemeißelt werden. Für jeden Meter, den ich mich näherte, schlug mein Herz eintausend mal. Ich stand direkt davor. Die schwarze Autotür spiegelte das Licht der Laterne. Mit zitternden Händen umschloss ich den Türgriff. Ich konnte doch nicht jetzt bereits so aufgeregt sein. Wir waren jetzt nur auf dem Weg zu Sumiyo. Der Auftritt war erst in zwei Stunden. Doch mein Körper wollte dies nicht verstehen. Während der Autofahrt war mein Gehirn vollends blockiert. Nur als wir vor Sumiyos Haus ankamen, kreisten meine Gedanken nicht mehr um den Auftritt. Alleine stieg ich aus und klingelte. Wenige Sekunden später stand sie vor mir und mir blieb der Mund offen stehen.

Ihr blondes Haar ruhte in leichten Wellen auf ihren Schultern. Ihre vollen Lippen zogen jede meiner Körperzellen zu sich. Sie glänzten unter dem korallfarbenen Lipgloss, als seien sie die Perle einer Muschel. Nur der blassrosane Stoff ihres bodenlangen Kleides, der sich gegen gebräunten Teint schmiegte, konnte meinen Blick weiterführen. Im Laternenlicht schimmerten das Glitzer ihres hautengen Kleides bei jeder Bewegung. Das Blut schoss mir ins Gesicht. Mir wurde heiß, denn sie sah einfach atemberaubend aus. Ich wischte mir die Hand an der Hose ab, bevor ich sie Sumiyo reichte. Lächelnd nahm sie sie entgegen und stolzierte mit mir zum Automeiner Eltern. Ich hielt ihr die Tür offen und lief zur anderen Seite. Als sei es ein Startsignal, trat mein Vater sofort aufs Gas, sobald das Klicken unserer Gurte erklang.

Im Theater selbst ging alles so schnell. Viel zu schnell war ich die Person, die als Nächstes auftreten sollte. Mein Körper schien sich auf einen Kampf mit einem Bären vorzubereiten. Um ehrlich zu sein, wäre mir dies in dem Moment auch lieber gewesen. Stattdessen stand ich mit zitternden Knien hinter der Bühne und starrte die Violinistin an, die gerade für das Publikum spielte. Noch stand ich sicher hinter dem dunkelroten Vorhang. Doch in nur wenigen Minuten würde das Mädchen auf der Bühne die Fläche mir überlassen. Der Flügel stand parat, die Notenblätter knisterten in meiner Hand. Alles war perfekt vorbereitet. Doch war ich selbst bereit?

Die Musik hörte auf. Alle Zuschauer klatschten. Das Mädchen lief an mir vorbei, mit ihrer Violine fest umklammert, als würde sie sie liebend gerne zerquetschen. Ich schluckte und wandte meinen Blick wieder nach vorne. Ein Sprecher stand auf der Bühne. Die Scheinwerfer trieben ihm die Schweißperlen auf die Stirn. Ich brauchte dafür kein heißes Licht. Meine Angst reichte.

„Und als nächstes: Lewis Abrams."

Ich musste mich regelrecht losreißen vom Boden, um hinter dem Vorhanghervorzukommen. Es fühlte sich an, als wäre die Sohle meiner Schuhe geschmolzen und würde mich am Gehen hindern. Wie geschmolzenes Gummi riss ich sie vom Boden und trat auf die Bühne. Das stechende Licht erschwerte meinen Blick zum Publikum.

Trotzdem suchte ich nach Sumiyo. Ich verbeugte mich und suchte weiter die Menge ab. Dann erkannte ich sie. Sumiyo in ihrem rosa glitzernden Kleid. Sie saß in der vierten Reihe neben meinen Eltern. Wie sie für mich klatschte, gab mir die Kraft, mich auf dem Klavierhocker niederzulassen.
Das dunkle Holz des Flügels glänzte. Ich platzierte meine Notenblätter, legte die Finger auf die Tasten. Ein letzter tiefer Atemzug, ein Blick zum Publikum. Dann stockte mir der Atem. 

Alles um mich wurde schwarz. Nur ein kleiner Fleck blieb übrig. In der letzten Reihe. Schneeweiß war er. Und er verformte sich. Ich hielt die Luft an. Anfangs war es schwer zu sehen. Doch die Figur wurde klarer und klarer. Weißes, elendig langes Haar schlängelte hervor. Ich war gezwungen, zuzusehen. Stück für Stück entstand sie. Das Mädchen meiner Albträume. Mehr und mehrdreckiger Flusswassergeruch zwang sich mir in Nase. Ich rang nach Luft.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. Nicht in meinem Ohr. Direkt in meinem Gehirn, als wäre sie ein Teil von mir.

Lewis, spiel für mich."

"

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Death's EyesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt