Niemand kam. Die Tür öffnete sich nicht. Niemand befreite mich aus Tanakas Griff. Ich konnte nur auf den Anhänger starren, der blau unter ihrem Kragen schimmerte. Ich spürte die Tränen, ich hörte mein Schluchzen, aber mein Bewusstsein entfernte sich.
Als würde ich aus meinem Körper treten, stand ich da, ein reiner Zuschauer, während mein Körper in den Klauen von Tanaka steckte. Mit der Hüfte an die Tischkante gedrückt hing ich da, hilflos. Unendlich viele Gedanken hielten meine Muskeln vom Kämpfen. Sie wusste, dass ich anders war. Würde sie es wagen? Würde sie mich verraten? Mir meine falsche Maske abschlagen? Sie würde jedem erzählen, dass ich anders war. Aber sie würden ihr nicht glauben, oder? Sumiyo würde ihr nicht glauben, oder?
Die Welt vor mir flackerte. Alles drehte sich.Plötzlich jedoch wurde das blaue Licht des Anhängers immer kleiner, bis es schlussendlich erlosch. Jemand zog mich aus dem Raum, raus auf den Flur. Ich wurde durch die Gänge gezerrt, dann durchquerten wir die Ausgangstür. Der Wind schmiss mein Haar umher. Der Regen landete auf meiner Haut.
Reflexartig versuchte ich tief einzuatmen, doch ich konnte nicht. Meine Kehle war verstopft mit einem riesigen Kloß. Mir fehlte Luft. Ich fühlte mich, als formte der Regen einen See, in dem ich jeden Moment ertrinken würde.Ich bekam mit, wie sie wiederholt meinen Namen rief, nur konnte ich ihr keine Reaktion geben, denn ich fühlte mich leer. Als würde mir in Kürze mein Leben wieder weggerissen werden, noch bevor ich mich dran gewöhnen konnte. Wie jedes Mal.
„Hör mir doch zu!", drängte Sumiyo und packte mein Gesicht mit beiden Händen, wodurch ich gezwungen war, in ihre braunen Augen zuschauen. „Es ist alles in Ordnung, okay? Du bist bei mir. Sie ist weg."
Auf ihren Wimpern hatten sich Regentropfen gesammelt. Honigblonde Haarsträhnen klebten verstreut in ihrem Gesicht. Doch auch das zerstörte ihre Schönheit nicht. Ihre Lippen waren voll und korallenfarbig. Ihre Wangen, auch wenn nass, waren überzogen mit einem rosaroten Teint.
Je länger ich in ihre runden Augen starrte, desto weniger klopfte mir das Herz gegen die Rippen und ich atmete kontrollierter. Ich schluckte. Mein Hals wurde mit jeder Sekunde, die ich in ihren Augen verbrachte, freier. Nur in meinem Bauch merkte ich noch ein Kribbeln, jedoch war dies anderes. Es war ein schönes Kribbeln. Sie hatte mich gerettet.
Ich legte eine Hand auf ihre, die noch immer an meinem Gesicht ruhte. Erst jetzt bekam ich mit, wo wir waren. Wir standen in dem Abstellbereich für Fahrräder. Laut prasselten Millionen von Tropfen auf das Glasdach, aber für mich war nur der Klang von Sumiyos Stimme von Bedeutung.
„Bin ich froh, dass sie dir nicht noch mehr angetan hat. So ein Biest!" Sie atmete erleichtert aus und nahm ihre Hände von meinen Wangen. Sie erklärte mir, dass sie nur zurückgekommen sei, weil sie ihre Sporttasche vergessen hatte. Jedenfalls sei sie aber jetzt froh, dass sie sie liegen gelassen hatte, da sie mir dadurch helfen konnte.
Sie fing an, sich über Tanaka aufzuregen und sie zu verfluchen. Als sie jedoch erwähnte, dass man sie dafür unbedingt melden müsse, setzte mein Herz einen Schlag aus.„B-bitte nicht!", unterbrach ich sie und schüttelte den Kopf.
Wenn sie den Vorfall melden würde, würde das zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenken. Tanaka könnte sich in eine Ecke gedrängt fühlen und mich mit in den Abgrund ziehen. Es reichte schon, dass sie heimlich die Oberhand hatte.
„Warum nicht? Lewis, sie hätte dich fast geschlagen!", argumentierte sie.
„Es ist nur ... Wenn wir sie jetzt melden, provoziert sie das noch mehr. W-wer weiß, wozu sie dann noch fähig ist!", log ich. Zuerst runzelte sie die Stirn, aber kurz danach lockerte sich ihr Gesicht wieder. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Lippen.
„Hm, da hast du wahrscheinlich Recht", seufzte sie und lehnte sich an eine der Glaswände. „Ich will nur, dass es dir gut geht. Immer, wenn ich dich sehe, hab ich dieses Verlangen, dich glücklich zu machen. Das war schon seit dem ersten Tag so. Ich hab dich wirklich gern Lewis und ich habe Angst, dass Tanaka dir etwas antun könnte."
Ich konnte meinen Ohren nicht glauben. Meine Mundwinkel stiegen wie von selbst nach oben. Gerade, als ich ihr von meinen Gefühlen erzählen wollte, redete sie jedoch weiter und ich schloss meinen Mund wieder.
„Ich verstehe nicht, warum ihre Familie noch nicht weggezogen ist. Jeder im Umkreis meidet diese Familie. Wir wissen alle, dass bei denen etwas nicht stimmt. Ich habe meinen Vater auch schon so oft gefragt, warum die OGPA sie nicht festnimmt, aber er will mir keine Antwort geben!" Genervt verschränkte Sumiyo die Arme und blies die Wangen auf.
Danach trat eine unangenehme Stille auf. Sumiyo war fertig mit reden und ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Daher ließ ich meinen Blick schweifen. Weit und breit war niemand anders als wir zu sehen. Nur die dunkelgrauen Wolken wachten über uns. Ich musste erst einmal alles verarbeiten. Tanakas Angriff, Sumiyos Verdachte.
Doch dafür bekam ich keine Zeit, denn auf einmal brach Sumiyo die Stille und mein Blick schoss sofort wieder zu ihr. Allerdings waren die Worte, die sie sprach, noch schockierender als zuvor.
„Ich bin adoptiert, weißt du? Meine Eltern -" Ihre Augen wurden glasig und sie sah hoch zum grauen Himmel. „Wesen haben sie beim Riss 0 ermordet." Meine Augen weiteten sich.
„Was?", platzte es aus mir heraus. Niemals hätte ich erwartet, dass sie so ein Leid erfahren hatte. Sie hatte immer so gute Laune. Wie schaffte sie das?
„Die OGPA hat die Risse zu einhundert Prozent unter Kontrolle, ja. Trotzdem können vielleicht noch immer Wesen unter uns sein - Niemand weiß es. Ich will kein Risiko eingehen und du solltest es auch nicht. Tanaka soll dir nichts antun können, aber ich kann dich nur beschützen, wenn du mit mir zusammenarbeitest, nicht gegen mich", sagte sie und stieß sich von der Wand ab.
Hinter ihr floss ein Meer aus Regentropfen die Glasscheibe hinunter, als sie sich mir näherte und mich mit ihren Armen umschloss. Trotz des ekelhaften Geruchs von Regen, erreichte ihr blumiges Parfüm meine Nase. Ich erwiderte ihre Umarmung und ließ meinen Kopf auf ihre Schulter fallen.
„Das Einzige, was ich möchte, ist, dass du ihr aus dem Weg gehst. Ich sorg' schon dafür, dass sie dir nie mehr etwas tut", flüsterte sie mir ins Ohr, während ich meine Finger stärker in ihrer Jacke vergrub. Ihr Atem wärmte meine Haut.
Für einen Moment verdrängte er die Kälte, die meine Ohrmuscheln rot anlaufen ließ und ich vergaß den Regen.
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Death's Eyes
Fantasy"Obwohl braune Augen Wärme ausstrahlten, erkannte ich in diesen nur den Tod." Lewis hat die Chance auf das Leben seiner Träume. Trotz seiner Halluzinationen könnte er ein ganz normales Leben führen. Doch eine mysteriöse Begegnung droht seine ruhige...