TW: Blut (sehr leichter Gore)
Gefährlich ragten die Fichten dem pechschwarzen Himmel entgegen. Doch ich hörte nicht, wie ihre Blätter raschelten, sah nicht, wie sie sich im Wind hin und her wogen. Anstelle der herrlichen Naturgeräusche bohrte sich eine unheimliche Stille in meine Ohren. Nebel war über das hohe Gras gespannt. Es war gefangen darunter, wie eine Beute in einem Spinnennetz.
Ich blickte an mir herunter. Meine Kleidung war verschwunden. Stattdessen entdeckte ich den kristallklaren Bach, der meine Gelenke umfasste. Dass es Wasser war, konnte ich nur an der Nässe meiner Füße erahnen, denn ich konnte Schritte machen, ohne dass die kleinste Welle entstand. Es war, als wäre um mich herum die Zeit eingefroren.
Das einzige Licht ging von eisblau schimmernden Kugeln auf den Grasspitzen am Rand des Baches aus. Ihr Schein spiegelte sich in der stillen Wasseroberfläche. Zuerst berührten auch meine Schienbeine das Wasser. Dann meine Knie und kurz darauf hockte ich im regungslosen Bach. Ein Gelenk nach dem anderen bewegte sich, um meinen Finger der Leuchtkugel entgegenzustrecken.
Ein Knacken durchdrang die ewige Stille. Die Kugel färbte sich königsblau und eine blaue Raupe kroch aus ihr heraus. Mit ihren winzigen Beinchen krabbelte sie auf meine Fingerspitze, über meinen Finger bis hin zu meinem Handrücken. Dort verharrte sie jedoch auf einmal in ihrer Bewegung. Wie die Blätter der Fichten fror sie ein. Als hätte jemand ihre Zeit pausiert.
Meine Augen weiteten sich, als sich ein Kokon aus silbernen Fäden um sie wickelte. Aus der glitzernden Hülle trat eine Motte. Sie wuchs mehr und mehr, bis sie meine gesamte Hand bedeckte. Ihre gewaltigen Flügel waren milchig, fast durchsichtig und strahlten ein schneeweißes Licht aus. Zudem zierte sie ein markantes Muster. Dunkelblaue Linien, die in der Mitte die Form eines Auges annahmen. Bevor ich sie jedoch weiter betrachten konnte, flog sie von meiner Hand.
Kurz flatterte sie vor meinem Gesicht. Dann zischte sie mit einer enormen Geschwindigkeit ins Gebüsch. Etwas in mir sagte, dass ich ihr folgen sollte. Also rannte ich los. Durch das Gestrüpp und vorbei an den dicken Bäumen. Die Äste waren wie Messer, als sie gegen meine Haut schlugen. Doch das war egal. Vor mir blitzte immer wieder die Motte auf. Ich war auf dem richtigen Weg.Als ich den letzten Busch hinter mir gelassen hatte, wurde ich von einer weiten Lichtung begrüßt. In ihrer Mitte erstreckte sich eine riesige Pyramide aus Marmor, an dessen Spitze etwas schimmerte. Es sah aus wie ein riesiger Diamant, zu dem eine schmale Treppe führte. Das Konstrukt lag etwas tiefer in der Erde und war nicht von Gras umgeben. Der Motte hinterher, näherte ich mich der Treppe und bemerkte, dass es von Wasser war, in dem die Pyramide lag.
Auf den Treppenstufen erkannte Zeichnungen, welche in den glatten Marmorstein geritzt waren. Sie waren nicht perfekt, nicht von Maschinen gemacht. Sie waren von Hand gezeichnet worden. Menschlich. Vorsichtig erklomm ich eine Stufe nach der anderen und mit jeder offenbarte sich mir eine neue Zeichnung. Mal war es ein schiefes Herz, mal eine Blume, die aussah, als hätte sie ein Blütenblatt zu wenig.
Eh ich mich versah, befand sich der unendlich scheinenden Fichtenwald unter mir. Was von unten aussah wie ein riesiger Diamant, entpuppte sich als ein Thron. Die Sitzfläche war umrandet von spitzen Säulen aus Diamant, die eine Rückenlehne bildeten. Seitlich ragten weitere aus dem hellblau leuchtenden Glasboden.
Als ich über die Sitzfläche strich, bemerkte ich Fugen. Es waren mehrere Striche. Schriftzeichen? Mit dem bloßen Auge waren sie nicht erkennbar. Ich fuhr mehrmals mit der Hand über die oberen Einkerbungen. War es die Silbe ka¹? Weiter kam ich nicht, denn ich hörte sie schon. Ich hörte, wie sie sich in Massen näherten.
Ich hätte den Thron niemals berühren sollen.
Aus der Ferne sahen sie aus, wie Wolken, aber je näher sie kamen, desto deutlicher wurde es. Es waren Motten. Sie kamen von überall. Sie klebten sich an meine Haut, an meine Armen, meine Beine. Sie rissen meine Haut auf. Zelle für Zelle. Es brannte. Mein ganzer Körperstand in Flammen. Die spitzen Enden ihrer Beine. Sie bohrten sich wie Krallen in die Wunden und kratzten sie weiter auf. Das Blut triefte aus den Rissen. Ich war nur ein Stück Fleisch am unteren Ende der Nahrungskette.
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Death's Eyes
Fantasy"Obwohl braune Augen Wärme ausstrahlten, erkannte ich in diesen nur den Tod." Lewis hat die Chance auf das Leben seiner Träume. Trotz seiner Halluzinationen könnte er ein ganz normales Leben führen. Doch eine mysteriöse Begegnung droht seine ruhige...