5. Blindflug

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Sie dürfen nicht alles glauben, was sie denken.

(Heinz Erhardt)

LINA

Seit ungefähr zwei Wochen schiebe ich die Konfrontation nun vor mir her. Während sich die Wogen mit meiner besten Freundin schon längst geglättet haben und sie sich größte Mühe gibt, sämtliche Gedanken für sich zu behalten, habe ich nicht ein Wort mit meinen Eltern gewechselt. Anrufe von Jacob ignoriere ich genau so, wie Tweets, Snaps, Insta-DMs und WhatsApp von Tommy. Auf sämtlichen Kanälen hat es die kleine Ratte bisher versucht. Ich sehe mir alles an, antworte aber nicht. Vielleicht fehlen mir die nötigen Eier in der Hose, der Mumm in den Knochen, um schuldbewusst angekrochen zu kommen. Ich bin im Unrecht, das ist mir bewusst. Wenigstens zur Hälfte ist die ganze Misere mein Verschulden und meinem entsetzlichen Sturkopf zu verdanken.

Vielleicht habe ich aber auch einfach keine Kraft mehr für diese Dinge.

Die Sonne strahlt angenehm durch die Fenster, als ich ein letztes Mal mit dem Lappen über die Stahlfläche putze. Gedanklich bin ich schon längst im Feierabend und gebe mich ganz meiner Routine hin.

Gestern Abend schon habe ich im Badezimmer alles hergerichtet, mein Outfit für heute Abend hängt auf der Wäscheleine, Rasierer und Peeling stehen bereit, sämtliche Gesichts- und Augenmasken liegen im Kühlschrank, die Tasche ist gepackt und meine Vorfreude geht ins Unermessliche!

Ein dümmliches Grinsen, für das ich heute schon die ein oder andere Spitze bekommen habe, liegt mir auf den Lippen und ich habe weder Kraft noch Willen es einzustellen.„Linaahaa!" mit einem weißen Blatt Papier fuchtelt Fionn vor meiner Nase rum und holt mich in die Realität zurück. Das Grinsen auf den Lippen und die wackelnden Augenbrauen gleichen einer wehenden roten Flagge. Ich hätte einfach laufen sollen...

„In welchen Sphären bist du denn unterwegs?" fragt er grinsend, lehnt sich an den eben polierten Tisch und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was willst du?" fauche ich ein bisschen angesäuert und versuche der rechten Hand meiner besten Freundin den Zettel abzuluchsen. Keine Chance.

„Du zuerst", fängt er an und ich kontere schnell mit einem knappen: „Du bist hier reingeplatzt, also willst du ja wohl was von mir."
Der größte Träumer in dieser kleinen aber feinen Backstube ist nur vier Jahre jünger als ich und damit genau im Alter meines kleinen Bruders. Vermutlich fällt es ihm deshalb so spielend leicht, mich auf die Palme zu bringen. Der Ausdruck in seinem Gesicht, das verschmitzte Grinsen, es macht mich fuchsig. „Jetzt gib schon her", zeternd bin ich versucht trotzig mit beiden Füßen aufzustampfen. Im Gegensatz zu Tommy genügt bei Fionn ein Schmollmund in Kombination mit Dackelblick und blinzeln. Endlich rückt er den Zettel heraus, ich lasse meine Augen über das Papier wandern und bin sofort genervt.

„Wieso nimmt sie denn auf einen Freitagmittag so eine blöde Bestellung an?" murmle ich eher zu mir selbst und verdrehe die Augen. Wo zum Henker soll ich denn auf die Schnelle vier Schokoladen-Cremetorten herzaubern? „Sie weiß doch, dass wir heute Abend was vor haben und ich morgen später anfangen wollte. Milan ist doch für den Bums morgen zuständig und außerdem hat sie doch sämtliche Vorräte aus dem Froster aufbrauchen lassen, weil das Thermostat kaputt ist." Fionn zuckt darauf hin lediglich mit den Schultern. Die Blondine wusste schon ganz genau, wieso sie ihn schickte. Den Boten kann ich schlecht erschießen, auch, wenn ich große Lust darauf hätte. Tammy wäre jetzt einen Kopf kürzer und hätte so in der Konzertmenge wohl weniger Spaß, als ohne hin schon.

„Gib mir mal die Palette aus der Schublade bitte." Fionn ist verwirrt, aber er hört ausnahmsweise auf mich. Noch ein Unterschied zu Tommy. Kurz überlege ich eines der rohen Eier als Baseball Zweck zu entfremden, habe jedoch Angst, dass ich die Suppe am Ende im Haar habe, statt der Person, die es eigentlich verdient hat. Somit bleibt das Teil genau dort, wo es hingehört und ich trete aus der Konditorei in die recht stille Backstube. „Die anderen sind schon nach Hause", antwortet Fionn auf meine Frage, die ich nicht einmal gestellt habe. „Kannst du jetzt auch noch Gedanken lesen?" grinsend stupse ich ihn in die Seite und entscheide mich um. Die Palette, mit der ich ihr sonst eine kleine, private Spanking-Session verpasst hätte, landet wieder in der Schublade und ich schnappe mir doch eines der Eier. Vielleicht sollten wir uns mal über die Rohstoff-Zweck-Entfremdung unterhalten, schießt es mir durch den Kopf und ich muss grinsen.

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