Kapitel 3

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„Das kann alles einfach nicht sein", flüstere ich und starre auf das Standbild meines Fernsehers.
Die Hände habe ich in mein Gesicht gelegt und sitze auf der Kante meiner Couch. 4:56 Uhr.

Gleich muss ich aufstehen und mich für die Arbeit fertigmachen. Ich kann das heute alles nicht.

„Ich kann das alles nicht mehr", sage ich und eine Träne läuft mir die Wange herunter. „Mit was habe ich das verdient?!", schreie ich in meine Hände und stolpere in mein Badezimmer. Mit zitternden Händen umklammere ich die Toilette und übergebe mich. Mit zitternden Körper und kaltem Schweiß starre ich auf die weißen Fliesen.

Die Polizisten werden Argon schon schnappen. Er kommt ja nicht weit. Immerhin hat er das ja nicht geplant — hoffe ich, sonst hätte er es schon viel eher getan.

„Beruhig dich", wiederhole ich immer wieder und streiche mir meine kalten Arme auf und ab.
„Er wird es nicht über das Wasser schaffen", flüstere ich und stelle mich vor meinen Spiegel.
Es ist an der Zeit sich fertig zu machen.

„Geht es dir gut?", fragt mich eine der Mitarbeiterinnen und holt sich ihr Essen aus der Mikrowelle. „Ja, alles in Ordnung", sage ich und beiße in mein trockenes Brötchen.
„Du sieht's aber nicht so aus", sagt sie und setzt sich neben mich. „War einfach nur eine zu kurze Nacht", sage ich.
Es war gar keine Nacht. Ich habe keine Sekunde geschlafen. Ich bin froh, dass ich an der Kasse nicht eingeschlafen bin.
Nur noch zwei Stunden und dann bin ich fertig - für heute.

„Bei mir auch", sagt sie und zwinkert mir zu. Kurz lächle ich sie gezwungenermaßen an und wische mir die Krümel von der Uniform.

„Nur noch anderthalb Stunden und dann bin ich fertig", sage ich und wische den Orangensaft vom Boden auf. „Nur noch eine halbe Stunde", flüstere ich und hebe das Kleingeld auf, was mir die Kundin hingeworfen hat. „Nur noch zehn Minuten", denke ich mir und schaue in das Gesicht des Mannes, der mich nach meiner Nummer gefragt hat.
„Und fertig", sage ich und werfe meinen Spind zu.

Geradeso bekomme ich meine Bahn und komme so spät wie immer zu Hause an. Mit Einkäufen in der Hand drücke ich die Tür auf und stelle die Sachen in die Küche. Mit einer Hand mache ich den Fernseher an und schalte sofort auf den Nachrichtensender.

„Und hier ist ihr langersehntes Update zu dem Verbrecher Argon Salvatore.
Der Sträfling befindet sich immer noch auf freiem Fuß. Die Insel und Umgebung des Gefängnis wurden genauestens abgesucht,
jedoch ohne Erfolg.
Spezialisten gehen immer noch von keiner Gefahr aus. Jedoch bitten wir alle Ihre Wohnungen und Fenster Abends abzuschließen — als Vorsichtsnahme.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend."

Scheiße. Er ist immer noch auf freiem Fuß.
„Oh Mann", sage ich und meine Kehle schnürt sich zu. Mein Herz rast und Schweiß läuft mir mein Gesicht herunter. Mit zitternden Atem lege ich mich auf meinen kalten Küchenboden und konzentriere mich auf das Ticken der Küchenuhr.

Ein lautes Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken. Oh nein. Hat er mich schon gefunden? Nein. Nein. Nein. Nein.

„Mila?", fragt die weibliche Stimme und ich atme ruhig aus. Meine Nachbarin.
„Guten Abend", sage ich und schaue in das Gesicht der alten Dame. „Geht es Ihnen gut?", fragt sie und legt ihre Hand auf meine Stirn. „Oh Liebes, sie haben Fieber. Sie sollten sich ausruhen gehen", sagt sie und schaut mich besorgt an. „Alles gut", sage ich und schaue durch verschwommene Augen in ihre.

„Kann ich Ihnen helfen?", frage ich und lenke das Thema um. „Ich wollte nur fragen, ob sie mir bei einem Paket helfen können. Der Postbote hat es unten abgestellt und es ist mir leider zu schwer, um es hochzutragen", sagt sie und schaut durch ihre Größe zu mir nach oben. „Klar, ich hole es", sage ich und laufe durch meine Tür.

„Oh bitte nicht. Sie sollten sich lieber ausruhen, Liebes", sagt sie und läuft mit hinterher. „Das kann ich auch danach machen", sage ich und steige in den Fahrstuhl ein.

Das Paket stellte sich als ein neuer Fernseher heraus. Hätte ich doch lieber nein gesagt.

Nach einem großen Danke, einer Umarmung und fiebersenkenden Tabletten bin ich wieder in meiner Wohnung verschwunden.

„Ich kann jetzt nicht krank werden", sage ich und schlucke die fünfte Schmerztablette. Meine Wangen glühen nicht mehr und die Kälte steigt nicht mehr meine Knochen hoch. Ich liebe Schmerztabletten. Die erinnern mich an gute alte Zeiten, in denen ich Abhängig von den weißen Teilen war.

„In zwanzig Minuten muss ich aufstehen", sage ich und schaue auf die Uhr neben meinem Nachttisch. Ich habe schon wieder kein Auge zubekommen.
Das ist schon die zweite Nacht.

Mit einer glühenden Stirn und einer leeren Tablettenschachtel werfe ich das Schließfach zu und laufe durch den Hintereingang nach draußen in die kalte Nacht. Meinen Mantel ziehe ich aus und schließe meine Augen. Die kalte Luft tut so gut. Plötzliche Kälte zieht durch meinen Körper und ich ziehe den Mantel wieder enger um mich.

„Was...", sage ich und schaue auf die Anzeige der Bahn.

„Durch Bauarbeiten liegt eine Verspätung von vier Stunden vor."

In vier Stunden muss ich schon wieder aufstehen. Das wird nichts.
Ein Taxi kann ich mir auch nicht leisten. Das übrige Geld vom Monatsgehalt bezahlt mein Essen und keine Taxifahrten.

Mit den Händen in den Taschen laufe ich schwankend durch die leeren und dunklen Straßen. „Nur noch dreizig Minuten", stöhne ich außer Atem und mein Rachen brennt wie Feuer.

„Alles in Ordnung?", fragt eine männliche Stimme hinter mir und ich drehe mich um. „Ja", antworte ich schlicht und schaue auf den Mann im langen schwarzen Mantel. Ich nicke ihm kurz zu und stemme meine Füße gegen den Boden.
Lauf einfach weiter. Gleich hast du es geschafft.

„Willst du mit zu mir kommen?", fragt die Stimme erneut und seine Schritte kommen näher auf mich zu. Verdammt.

OUR PAST WILL BE OUR DEATHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt