Kapitel 1 - Blutbefleckte Jacke

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20 Jahre später

"Nur noch ein bisschen, Shiro, dann hab ich die Erinnerungen!", presste Kadeon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sein jüngerer Halbbruder vor ihm auf dem Bett lag. Seine Haare klebten ihm von all dem Schweiß in der Stirn. Es tat so weh, wenn Kadeon an seiner Seele und gleichzeitig an seinen Erinnerungen rumwühlte. Seine Hände verkrampften sich zu Fäusten, ehe er die Behandlung ein weiteres Mal abbrach. "Stopp, hör auf, Kadeon!" Sein Bruder ließ von ihm ab und seufzte, während Shiro sich erschöpft keuchend aufrichtete und sich mit den Händen durch die Haare fuhr.
"Es klappt einfach nicht ...!"
"Wenn du jedes Mal vorzeitig abbrichst, kann es ja auch nicht klappen.", brummte Kadeon leise neben seinem Bruder.
"Halt die Klappe! Wenn du gewaltsam daran rumzerrst, geht meine Seele nur wieder kaputt!"
Kadeon verzog schuldbewusst die Mundwinkel und fuhr sich mit der Hand über den Nacken, der nun von einer großen Narbe geziert wurde, die sich bis über seinen Rücken erstreckte. Armath hatte ihn zu fürchterlichen Taten gezwungen und das bereute er bis heute zutiefst. Selbst so viele Jahrhunderte später lastete diese Schuld schwer auf ihm.

"Immerhin hast du circa 90 % deiner Erinnerungen zurück, das ist doch auch schonmal ein Anfang.", versuchte Kad seinen Bruder aufzumuntern.
"Aber ich hätte gerne _alle_ Erinnerungen zurück! 100 % oder gar nichts!", konterte der Arkener bissig.
"Ich habe einfach das Gefühl, dass mir irgendwas fehlt ... oder jemand. Was immer es ist, ich habe das Gefühl, dass es wichtig war ... etwas, das ich lieber nicht vergessen sollte." Shiro zog die Beine an seine Brust und umschlang sie mit seinen Armen.
Kadeon biss sich auf die Innenseite der Wange. Immerhin wusste er, welche Erinnerungen seinem Bruder fehlten. Die eines gewissen Mistkerls, der Kadeon abgrundtief verabscheute. Er nahm es Veit nicht einmal übel, dass er ihn hasste. An seiner Stelle würde sich Kad auch selbst hassen.
       "Irgendwann wirst du dich auch daran erinnern, Shiro. Ganz bestimmt.", versuchte Kad seinen Bruder aufzumuntern.
"Ja ja ... das hab ich schon oft gehört in den letzten Jahrhunderten ...! Ich gehe ein paar Tech-Chips einsacken. Wir könnten wieder einige Credits gebrauchen."
Seufzend schwang Shiro die Beine über die Bettkante und verließ das Zimmer, während Kadeon zurückblieb.

"Wieder ein Misserfolg?" Yasu betrat das Zimmer, kurz nachdem Shiro es verlassen hatte. Auf seinen Lippen zeigte sich ein mitleidiges Lächeln. "Was denkst du denn? So sehr ich ihm auch helfen will, dafür reichen meine Kräfte einfach nicht aus."
"Der einst so mächtige, weiße Todesbote hat also das Limit seiner Kräfte erreicht."
"Das ist nicht lustig, Yasu! Ich will meinem Bruder ja helfen, aber ich habe auch Angst davor, seine Seele noch einmal so stark beschädigen, wie damals." Yasu legte seinem Partner beruhigend die Hand auf die Schulter. "Du solltest dich nicht so verkrampfen dabei. Vielleicht ist ja das Glück auf unserer Seite und er und Veit laufen sich irgendwann nochmal über den Weg. Dann wird alles wieder gut."
Kadeon lächelte. Yasu war immer so zuversichtlich und half ihm, positiv zu denken.
"Womöglich hast du recht. Wer weiß, wo der Kerl rumstreunt ... vielleicht haben wir ja wirklich etwas Glück und sie begegnen sich erneut. Dann wäre es nur eine Frage der Zeit."
"Na siehst du!"
Kadeon legte seine Hand auf die seines Partner und lächelte zu ihm rauf. "Danke, dass du mich immer wieder aufbaust." Er drückte dem blonden Stoffhändler einen Kuss auf die Stirn, wodurch dessen Gesicht sogleich einer Tomate glich. Yasu schluckte, packte Kad am Arm und zerrte ihn hinter sich ins Schlafzimmer.

Währenddessen lief Shiro durch die Straßen und scrollte durch den Holo-Bildschirm, der vor seinem Gesicht schwebte und orientierte sich auf der Stadtkarte, in welchen Vierteln er die lohnenswerteste Beute ergattern konnte.
Nach einem kurzen Blinzeln verschwand der Holo-Bildschirm vor Shiros Gesicht und der Arkener machte sich auf den Weg zur Schwebebahn. Wenn er die Bahn erwischte, die an der Elite-Uni vorbeifuhr, würde er einige hochwertige Chips abgreifen können. Die Studenten der Akademie hatten ordentlich Kohle, besonders wenn ihre Eltern hohe Tiere in den Cyberware-Firmen waren. Solche Bälger prahlten oft mit dem Geld ihrer Eltern und plusterten sich auf, wie ein eingebildeter Pfau.
"Dabei haben diese Gören noch nichts in ihrem Leben gerissen, außer geboren zu werden ...!", beendete Shiro leise grummelnd seinen Gedanken, ehe er in die Schwebebahn einstieg, die gerade vor ihm in den Bahnhof eingefahren war.

Cyberpunk TodesbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt