Kapitel 2 - Das fremde Implantat

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15 Jahre zuvor ...

Die vergangenen Jahrhunderte waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Seine Haare waren länger geworden und auch seine Kleidung hatte er lange nicht mehr gesäubert. Der Schlafmangel stand ihm ins Gesicht geschrieben. Doch auch die vielen Jahre des Seelenrauschs waren ihm anzusehen. Ohne Shiro hatte er keinen Grund mehr, clean zu bleiben. Es war keiner mehr da, der ihn dafür verurteilen konnte. Auch von Amariel und Vio hatte er lange nichts mehr gehört oder sie gesehen. Wie es den beiden wohl ging? Ob sie mittlerweile wirklich geheiratet hatten? Genug Zeit war vergangen ...

Vielleicht sollte er mal von sich hören lassen. Doch wozu? Damit er das Glück der beiden begutachten konnte und darunter leiden musste, was er nicht mehr haben konnte? Nein, danke, darauf konnte er gut verzichten. Er wollte sich nicht unter die Nase reiben lassen, was er einst hatte und dann entrissen wurde. Selbst so viele Jahrhunderte später tat er sich schwer damit, zu akzeptieren, dass Shiro tot war - getötet vom eigenen Bruder, dem er die helfende Hand gereicht hatte.

Dieser elende Held ...!, dachte sich Veit grummelnd und genehmigte sich einen weiteren Schluck aus der Flasche mit hochprozentigem Alkohol. Jedoch glimmte in seinem Inneren immer noch ein winziger Funken Hoffnung, dass Shiro womöglich doch noch irgendwo da draußen war. So viele Male hatte er im Jenseits nach seiner Seele gesucht, um ihn zurück zu holen, wie er es schon einmal getan hatte, doch nie hatte er ihn dort gefunden. Also entweder wurde Shiros Seele bereits wiedergeboren oder er war gar nicht tot.

"Das macht dann 100 Credits, bitte." Veit überreichte der Dame hinter dem Verkaufsthresen das Geld, welches er sich durch gelegentliche, kleine Diebeszüge zusammenklaute, und nahm seine bestellten Gin Flaschen. Woher die Menschen in Night City ihr Geld hatten, interessierte niemanden. Solange du zahlen konntest, war alles andere irrelevant. Nachdem er die Flasche geöffnet hatte, setzte er sie an seine Lippen und nahm einen großen Schluck, wobei sogleich wieder alles ausspuckte, als sein Blick auf drei Männer fiel, die über den nahegelegenen Marktplatz liefen.

Die weiße Schlange, seine rechte Hand und ...

"Shiro?!" Ihm fiel die Flasche, für die er eben noch hart verdientes Geld bezahlt hatte, aus der Hand und sie zersprang klirrend auf dem Boden. Sofort setzte er sich in Bewegung. Konnte es sein? Konnte das wirklich Shiro sein? Sein Shiro?! Dieser elendige, tollkühne Held, der vor 800 Jahren aus seinem Leben verschwunden war! Aber warum war er mit Kadeon und Yasu unterwegs? Wie konnte er nur so entspannt neben den beiden herlaufen, nach allem, was geschehen war ... was Kad ihm angetan hatte?

Verfluchte, weiße Schlange!, fluchte Veit innerlich und presste seine Kiefer aufeinander. So schnell er konnte, rannte er über den Marktplatz, versuchte verzweifelt an Shiro heranzukommen. Es gab keine Zweifel mehr, es konnte nur Shiro sein, alles andere war schlicht und ergreifend unmöglich.

"Shiro! Shiro!! SHIRO, WARTE!!!", brüllte er immer wieder über den Platz, als der Schwarzhaarige des Dreier-Gespanns endlich den Kopf hob und sich in seine Richtung drehte, sodass er endlich dessen Gesicht erkennen konnte. Es war tatsächlich sein geliebter Eisprinz Shiro! Er trug die schwarzen Haare offen, da sie mittlerweile zu kurz waren, um sie zu einem Pferdeschwanz zu binden, doch die blauen, mandelförmigen Augen waren extakt die Augen, in denen er so oft diesen Zwiespalt hatte lesen können, ob er Veit eine reinhauen oder ihn küssen sollte.

Die Frisur steht ihm, aber warum hat er sich seine heiligen Haare geschnitten?

Veits Sicht wurde verschwommen. Ihm stiegen Tränen in die Augen, so erleichtert war er, den störrischen Arkener wiederzusehen. Doch wie konnte das sein? Wie konnte er am Leben sein? Er hatte doch eindeutig gesehen, wie er leblos in Kadeons Armen hing, als dieser Shiros Seele seinem Herrn Armath geopfert hatte. Da würde er sich die weiße Schlange noch einmal vorknöpfen müssen!

Cyberpunk TodesbotenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt