11. Kapitel

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Matthew, Samantha und ich kommen gerade aus unserer Mittagspause zurück. Mein Hintern berührt kaum meinen Bürostuhl, da rappelt mein Diensttelefon.

,,Baker", melde ich mich und schiebe meine Maus von rechts nach links, damit der Bildschirmschoner verschwindet und ich nebenbei die neu eingegangenen Arbeitsmails checken kann.

,,Ms. Baker, haben Sie mal ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch?"

Ich lege verwundert den Kopf schief und schaue auf die Anrufanzeige. Der Name meines Chefs leuchtet mir entgegen. Das ist ungewöhnlich, weil normalerweise immer nur seine Sekretärin Anrufe für ihn tätigt.

,,Selbstverständlich, Mr. Sanchez", antworte ich.

Matt und Sam lehnen sich gleichzeitig zurück und schauen so irritiert zu mir, wie ich mich fühle. Ich zucke hilflos mit den Schultern und bedeute ihnen damit, dass ich genauso wenig wisse wie sie.

,,Wunderbar, dann bis gleich."

Mr. Sanchez legt auf und ich erhebe mich in Zeitlupe.

,,Ookay", murmle ich und schaue abwechselnd von Matt zu Sam. ,,Ich weiß nicht, ob ich versehentlich etwas verbrochen habe. Also sollte ich nicht bald zurückkommen, wisst ihr, wer mich umgebracht hat. Ich möchte Gerechtigkeit, sonst suche ich euch heim, klar?"

Sam grinst mich breit an. ,,Wow, Addie, hattest du etwa Sex?"

Matt atmet tief ein und schnüffelt auffällig in meine Richtung. ,,Sie riecht nach Sex."

Meine Handflächen kribbeln, weil ich beiden am liebsten einen Klaps auf den Hinterkopf geben würde, stattdessen schnalze ich mit der Zunge. ,,Hört schon auf! Nein, hatte ich nicht. Wie kommst du darauf?"

,,Weil du noch nie einen Scherz während der Arbeitszeit gemacht hast", antwortet Matt für Samantha und sie nickt bestätigend.

,,Ach, ihr..", ich schlucke eine Beleidigung runter, weil wir uns im Büro befinden. ,,Seid bloß still und arbeitet lieber."

Die zwei kichern leise und ich drehe mich augenrollend, aber mit einem leichten Ziehen im Unterleib, um. Meine Füße tragen mich durch das Großraumbüro zum Aufzug. Mr. Sanchez' Büro befindet sich im obersten Stockwerk - typisch für den Chef.

Seine 60-jährige Sekretärin hat mich offenbar bereits erwartet, weil sie mich mit einem wissenden Lächeln begrüßt und mir die Tür zu Mr. Sanchez Büro aufhält. Die Spannung verfliegt ein bisschen, weil ihr Lächeln eher herzlich als mitleidig war und ich straffe die Schultern, bevor ich in sein Büro gehe.

Mr. Sanchez ist ein Mann in seinen Fünfzigern. Er sitzt in einem großen Ledersessel und nicht an seinem Schreibtisch. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine dicke Personalakte - meine, wie ich mit einem knappen Blick darauf feststelle. Ein Kloß in meinem Hals sorgt dafür, dass ich meinen Speichel nicht runterschlucken kann.

Scheiße, was habe ich getan?

Ich gehe im Kopf schnell die letzten relevantesten Fälle durch, aber mir fällt kein einziger Fehler auf. Ich habe jeden Fall erfolgreich abgeschlossen, ohne Probleme oder illegale Tricksereien.

,,Ms. Baker, setzen Sie sich."

Während ich mit wackeligen Beinen auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz nehme, nimmt er meine Personalakte in die Hände und legt sie sich auf den Schoß. Er trommelt mit den dicken Fingern darauf herum und mustert mich mit undurchdringlicher Miene.

Ich versuche ebenfalls, möglichst unbeteiligt auszusehen und nicht so, als würde ich jeden Moment eine Standpauke erwarten. Weil, verdammt. dazu habe ich keinen Grund. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen! Außerdem weiß ich, wie wichtig es in unserem Beruf ist, ein gutes Pokerface zu wahren.

Also überschlage ich meine Beine, falte meine Hände im Schoß und schaue Mr. Sanchez geduldig an.

Nach einer gefühlten Ewigkeit rührt er sich und ein schlichtes Lächeln erscheint auf seinen Lippen. ,,Ms. Baker, fühlen Sie sich als Anwältin wohl?"

,,Natürlich", entgegne ich ruhig und komme mir sofort vor, als würde ich mich gerade im Gerichtssaal - im Zeugenstand - befinden, wo jedes Wort zu viel einem ins Verderben stürzen kann.

,,Fühlen Sie sich in dieser Firma ebenfalls wohl?"

Ich nicke langsam. ,,Ja."

Tatsächlich habe ich, seitdem ich hier arbeite, nicht eine Sekunde daran gedacht, mich in einer anderen Firma zu bewerben. Das liegt zum einen an dem super Team, mit dem ich zusammenarbeiten darf und zum anderen daran, dass 'Clark & Allen - LAW' die vielversprechendste und mit eine der größten Firmen in Texas ist. Unter ihrem Dach sind top Anwälte, die die größten Stars vertreten.

,,Das freut mich sehr, zu hören. Ms. Baker, ich möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten." Mr. Sanchez kommt schnell zur Sache und öffnet meine Mappe. Dann holt er ein Papier heraus, das nicht eingelocht, sondern lediglich in die Mappe gelegt worden ist. Er überfliegt es kurz, bevor er es mir vorlegt.

,,Ich habe vor kurzem eine Anfrage bekommen. Es geht um einen Pro-Bono-Fall." Ich höre ruhig zu und speichere mir die Information ab. Mr. Sanchez soll also einen Klienten verteidigen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten - quasi für umsonst arbeiten. ,,Es geht um einen möglichen Baupfusch. Ein Mitarbeiter in der Firma hat das Dach eines Hauses, das sie bauen sollten, offenbar mit Absicht sabotiert, sodass es kurz nach dem ersten Bezug einstürzte. Der Eigentümer ist unter den Trümmern begraben worden und noch bevor die Rettungskräfte eintrafen, verstorben."

Das klingt erst einmal nicht sehr kompliziert und ich frage mich, weswegen Mr. Sanchez mir davon erzählt.

,,Ich möchte, dass Sie diesen Fall übernehmen. Setzen Sie sich mit dem Klienten in Verbindung. Er erwartet einen Verteidiger heute um 18 Uhr. Die Presse ist schon ganz wild darauf, den Schuldigen in ihren Zeitungen auseinander zu reißen und um jedes Gerücht im Keim zu ersticken, treffen Sie sich bei ihm Zuhause - praktisch in Zivil. Er darf vorerst nicht mit dieser Firma in Verbindung stehen."

,,Das kann ich machen", bestätige ich, frage mich aber trotzdem, weswegen er mich dafür extra in sein Büro zitiert hat. Normalerweise landen diese Akten kommentarlos auf unseren Schreibtischen oder in unseren Postfächern vor dem Großraumbüro.

Mr. Sanchez lächelt zufrieden und schlägt meine Mappe zu. ,,Diese Antwort habe ich mir erhofft, Ms. Baker. Und jetzt möchte ich Ihnen das dazugehörige Angebot unterbreiten."

Ich hebe eine Augenbraue und lege den Kopf schief. Ein seltsames, kaltes Gefühl breitet sich in meinem Magen aus. Ein Angebot? Für einen Pro-Bono-Fall? Hat der Klient etwa Dreck am Stecken und deswegen will Mr. Sanchez damit nicht in Verbindung bringen?

,,Sie sind noch nicht so lange hier wie manch andere unter diesem Dach, aber Sie sind mit Abstand die ambitionierteste und vielversprechendste junge Anwältin, die ich je einstellen durfte, Ms Baker. Das ist auch Mr. Clark und Mr. Allen nicht verborgen geblieben. Wir stehen in engem Kontakt zueinander und sie haben beschlossen, Ihnen ein Jobangebot in Dallas anzubieten - mit der Möglichkeit, dort nach vorab vereinbarter Zeit, vermutlich nach fünf Jahren, Partnerin zu werden."

Mit wird schwindlig bei seinen Worten und ich muss die Tränen des Stolzes hart bekämpfen, die sich einen Weg an die Oberfläche bahnen wollen.

Ich habe es fast geschafft.

Ich bin Mitte 20 und habe fast geschafft, dass meine berufliche Karriere gefestigt ist und ich meinen zukünftigen Kindern alles ermöglichen kann.

Ich lasse mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen und kriege ganz weiche Beine bei dem Gedanken daran, die reelle Chance zu haben, Partnerin bei 'Clark & Allen - LAW' zu werden.

Aber plötzlich fühlt es sich so an, als hätte jemand mein Herz ausgehöhlt und es bis zum Rand mit Eiswasser gefüllt.

Ein Jobangebot in Dallas.

Gute 300 Kilometer entfernt von meinem jetzigen Zuhause.

Über 300 Kilometer entfernt von Joel.

Verdammte Scheiße.

the fire within usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt