Grace
Meinen Wagen parkte ich auf dem Besucherparkplatz von Nathalies Apartmentkomplex und stieg aus. Ben hatte mir vorhin noch geschrieben, dass Nathalie letzte Nacht betrunken vor seinem Haus sass und er sie nun nach Hause gebracht hatte. Er sagte nicht, was vorgefallen war, sondern nur, dass sie mich brauchen würde.
Seit drei Wochen ging es meiner besten Freundin beschissen und das, weil Ben sie enttäuscht hatte. Ich verstand Nathalie und wieso sie nicht zu ihm zurück ging, aber in den letzten Wochen hatte sie nicht das gesehen, was ich gesehen hatte. Sie war schon immer eine fröhliche Persönlichkeit, aber seit sie Ben kannte, war sie völlig anders.
Sie strahlte förmlich über das ganze Gesicht und war so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Jedes Mal, wenn sie mit mir über Ben redete, lächelte sie wie ein kleines Kind an Weihnachten und ihre Augen funkelten dabei so sehr, dass es mir ab und zu schon Angst machte. Leider war das alles jetzt vorbei.
Es war aber nicht nur Ben, der ihr so zusetzte, sondern auch der Vorfall letzte Woche, als sie nach der Bar von diesem Widerling fast vergewaltigt wurde. Nathalie war am Ende, versuchte es sich aber nicht anmerken zu lassen und machte weiter, wie vorher. Nur entging dabei niemandem, dass etwas überhaupt nicht in Ordnung war. Sie hatte ihr Lächeln verloren und liess sich völlig gehen. Diese Nathalie jetzt war nicht meine beste Freundin, sondern ein unglücklicher Mensch, dem das Herz gebrochen wurde.
Alles wäre so einfach, wenn sie über ihren eigenen Schatten springen würde. Sie hatte ihre Meinung zu den G.A., aber so schlimm, wie man sich in der Stadt erzählte, waren sie gar nicht. Sie alle waren herzensgute Menschen, die loyaler nicht sein könnten. Sie waren füreinander da und liessen sich nicht im Stich. Genau das hatte mich dazu gebracht Carlos' Angebot anzunehmen.
Letzte Woche stand er plötzlich vor meiner Tür um mit mir zu reden. Er sagte, dass seine Männer mich einige Tage beobachtet hatten und ihm erzählten, wie ich meine Arbeit machte und mit den Patienten umging. Er bot mir an in einem anderen Krankenhaus zu arbeiten. Dort waren nur Mitglieder der G.A. angestellt und auch die Patienten waren nur von ihnen. Es war sozusagen ein Elitekrankenhaus.
Ich hatte wirklich lange darüber nachgedacht, immerhin verstiessen sie regelmässig gegen das Gesetz und ich hatte auch das Pro und Contra abgewägt, bis ich zum Entschluss kam, meinen jetzigen Job zu kündigen und dort anzufangen. Es konnte mir eigentlich egal sein, wer diese Patienten waren und das Gehalt war auch um einiges besser als das, was ich gerade bekam. Wie hätte ich das Angebot also nicht annehmen sollen?
Ich würde nächsten Monat anfangen und irgendwie freute ich mich auch darauf, wenn denn Nathalie nicht wäre. Irgendwie musste ich ihr erklären, wieso ich meinen Job hingeschmissen hatte und wo ich nächstens arbeiten würde, ohne, dass sie gleich ausflippte und mir die Freundschaft kündigte. Ich hoffte, dass ich es ihr gleich schonend beibringen konnte.
Auf dem Gehweg blieb ich stehen, als ich neben einem Gebüsch eine dunkelbraune Tasche liegen sah. Sie sah der, die ich Nathalie geschenkt hatte, verdammt ähnlich. So neugierig wie ich nun mal war, nahm ich sie in die Hand und sah rein. Ich musste doch wissen wem sie gehörte, damit ich sie der Person wieder übergeben konnte, wenn sie denn hier in der Nähe wohnte.
Ich stockte aber, als ich den Schlüsselbund sah. „Das ist doch Nathalies.“ murmelte ich und nahm ihn gleich raus. Der kleine blaue Stoffwürfel bestätigte es mir nur, trotzdem musste ich sicher gehen und nahm den Geldbeutel raus, den ich auch gleich durchsuchte. Das hier war definitiv Nathalies Tasche.
Nachdenklich sah ich auf den Apartmentkomplex, ehe ich auch schon darauf zu ging und zu ihrer Wohnung ging. „Nathalie?“ angestrengt lauschte ich, aber aus ihrer Wohnung kam kein einziges Geräusch. „Nathalie, bist du da?“ wieder klopfte ich, doch auch jetzt meldete sie sich nicht, worauf ich mit dem Schlüssel die Tür öffnete und die Wohnung betrat.

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Nathalie - Leben und Lügen
RomanceTeil 5 der Everett-Reihe Ben Everett wird als fröhlicher und aufgedrehter Mensch beschrieben, der aber auch eine völlig andere Seite hat. Nathalie Noon verzaubert jeden mit ihrer freundlichen und sympathischen Art, doch niemand weiss, dass viel mehr...