Schlaflieder

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Nelyo warf seinem Bruder einen scharfen Blich zu: „Bitte Kano. Tu's einfach."

Er konnte nicht auf die Tränen achten, die in Kanos Augen glänzten. Als zweitältester musste er verstehen, musste stark genug sein, genau wie Nelyo es selbst jeden verdammten Tag war.

Weil seine Mutter mit leerem Blick aus dem Fenster starrte, nachdem sie eben noch geschrien hatte. Seinen Vater angeschrien hatte. Weil die Ambarussa aus dem Zimmer gestürmt waren, während Turco vermutlich irgendwo bei seinen Tieren saß, Moryo wusste Eru wo war und Curvo sich so lange in seiner Werkstatt einschließen würde, bis er zusammenbrach.

Er musste sich auf Kano verlassen können, wenn er das böckelnde Konstrukt zusammenhalten wollte, das sich ihre Familie nannte.

„Kano."

„Ich sehe nach den Ambarussa," presste der jüngere hervor.

Gut. Nelyo selbst würde dafür sorgen, dass Curvo sich nicht beim Arbeiten verletzte, dass Moryo nicht verzweifelte und Turco nicht vergaß, dass er ein Elb war und kein Geschöpf des Waldes.

Als letztes ging er zu der Werkstatt, von der er wusste, dass sein Vater dort arbeitete. Zwar war die Tür nicht verschlossen, doch das Klingen des Schmiedehammers machte jede Unterhaltung unmöglich. Ganz wie immer.

Also ging Nelyo nach oben, hoffend, dass Kano und die Ambarussa zurechtgekommen waren. Es war bereits dunkel, als er am Zimmer der Zwillinge voreischlich. Überrascht blieb er stehen, als er Musik zu hören glaubte. Erst hielt er es für ein Schlaflied, doch das war albern. Immerhin waren sie alle erwachsen.

Doch die ruhigen, ausgeglichenen Töne berührten etwas in ihm, sodass er innehielt, um zu lauschen.

Wir haben einander

Überrascht stellte Nelyo fest, dass er verstand. Dass Kano Worte spielte, mit denen die Ambarussa doch nichts anfangen konnten.

Wenn einer von uns verzweifelt, dann sind die anderen da.

Die Melodie zitterte. Kano mochte versichern, dass alles gut war, doch er glaubte es nicht.

Wir sind nicht allein.

Ich bin nicht allein.

Doch es klang so überzeugend.

Alles wird gut werden, irgendwann.

Fast hätte Nelyo es selbst geglaubt. Alles in ihm wünschte sich, die Tür zu öffnen und sich einfach zu Kano zu setzen. Einfach zuzuhören, dieser hoffnungsvollen, vertrauensvollen Melodie, und sich der Illusion hinzugeben, es wäre wahr. Er wollte Kanos Musik lauschen, ihm antworten, bis sie beide glaubten, dass sie nicht allein wären. Bis es wahr wäre.

Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Wenn ihr Haushalt funktionieren sollte, hatte er keine Zeit, sich Schlaflieder anzuhören. Immerhin waren sie alle erwachsen.

Die silberne HarfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt