Erinnerungen

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Wann immer die Zwillinge draußen spielten, wurden sie von einem der letzten beiden Feanorssöhne beobachtet. Das hatten sie nicht abgesprochen, genauso wenig wie sie es taten, weil sie Angst um die Sicherheit der Kinder hatten.

Den beiden bei ihren unbeschwerten Spielen zuzusehen, den Kindern, deren Familie sie abgeschlachtet hatten, den Kindern, die sie als ihre Eltern betrachteten, war wie der Blick in eine andere Welt.

Maedhros entdeckte seinen Bruder am Fenster beim Harfe spielen und es kostete ihn einen Augenblick um zu erkennen, dass Maglor weinte. Damals, als sie noch in Vainor gewesen waren, hatte er es immer bemerkt, wenn Maglor ihn gebraucht hatte. Bis er angefangen hatte anzunehmen, dass es dem jüngeren ebenso leichtfallen würde, wie ihm, seinen Schmerz in sich hineinzufressen und Verantwortung zu übernehmen. Es war ein Fehler gewesen.

Es gab so unglaublich viele Dinge, die er bitter bereute. Sich nicht genug um seine Brüder gekümmert zu haben war nicht das Geringste unter ihnen.

Leise ließ er sich neben Maglor nieder und wartete auf eine Reaktion. Sein Bruder hatte den Worten nie viel Zuneigung entgegengebracht – außer natürlich verwoben in einem Lied – doch Maedhros schloss trotzdem die Augen und hörte zu.

Da war eine Art Echo in der Melodie, als würden mehrere Instrumente gleichzeitig spielen.

Zwillinge

Elrond und Elros? Doch der Musik fehlte dieser Glanz der Weisheit, der in den Augen der Zwillinge schien.

Dann stellte Maedhros fest, dass er die Melodie kannte. Natürlich kannte er sie. Maglor hatte sie so lange gespielt. Immer und immer wieder. Und dann gar nicht mehr.

Es waren helle, aufsteigende Töne, die ungezwungen, beinahe spielerisch umeinander sprangen, wobei es immer klang, als würden zwei Instrumente spielen. Nur eine Tonfolge von acht, die er so häufig gehört hatte.

Ambarussa.

Er wusste, dass das Band zwischen Maglor und den beiden nach dem Tod ihres Vaters immer stärker geworden war.

Ein Schwerer Unterton schlich sich in die Musik. Zwar nicht sonderlich laut, doch mit der Zeit wurde er immer deutlicher, verdrängte die hohen, sorglosen Töne.

Sie waren so jung. Das alles... Sie hätten das nicht durchmachen sollen.

Es war die Wahrheit. Das erste Mal laut ausgesprochen, jetzt, da jede Reue zu spät kam.

Der Musiker spielte weiter, seine Finger flogen über die Saiten, während die hektische Melodie Maedhros' Verstand mit Bildern überflutete.

Das Schlachtfeld...

Die toten Körper der Ambarussa, direkt nebeneinander liegend...

Maglor, wie er aus dem Nichts auftauchte, auf sie zu stolperte, mit einem verzweifelten Aufschrei zu Boden stürzte...

Die Töne eilten weiter, wurden verworren und unverständlich.

Ich habe versprochen, sie zu beschützen... Ich hätte sie beschützen sollen... Ich hätte für sie da sein sollen, so wie du für mich da warst...

Als ob er je da gewesen wäre, wenn einer seiner Brüder ihn gebraucht hatte.

Ein verzweifelter Aufschrei der Musik.

Es hat nicht ausgereicht!

Das hatte es tatsächlich nicht. Plötzlich begannen Maglors Schultern zu zittern. Sein Spiel wurde schneller, wilder, unkontrollierbarer, während Tränen aus seinen geschlossenen Augen strömten.

Ich vermisse sie! Immer, wenn ich die Zwillinge anblicke, sehe ich sie, wünsche mir, sie wären hier. Als könnte ich es immer noch nicht richtig glauben. Ich vermisse sie so sehr, ich...

Mit einem leisen Pling fiel die Harfe zu Boden und der Musiker vergrub das Gesicht in den Händen während seine Schultern bebten.

Vorsichtig legte Maedhros die Arme um den Jüngeren, beinahe so, als wären sie wieder in Valinor. Ein weinendes Kind, beschützt von seinem älteren Bruder. In Valinor, als Maglor zum Weinen in Maedhros Armen gelegen hatte. Mit der Zeit hatte er sich beruhigt, sein Körper hatte aufgehört zu zittern und die Tränen auf seinen Wangen waren getrocknet. Dann hatte er seine Harfe aufgehoben und seinen Bruder angesehen, mit traurigen, aber dankbaren Augen, in denen noch immer der Schmerz schimmerte.

So wie damals geschah es auch jetzt, da Maedhros endlich wieder bereit war, zuzuhören.

Die silberne HarfeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt