„Sprich mit ihm," hatte die Heilerin zu Maglor gesagt, „ruf ihn bei seinem Namen, das wird ihm helfen."
„Nelyo..." fragte Maglor nun unsicher, den Blick auf das starre Gesicht seines Bruders gerichtet, „Maedhros, bist du da?" Die Worte fühlten sich fremd und ungewohnt auf seiner Zunge an. Er hatte noch nie ein Talent dafür gehabt, sie richtig aneinanderzureihen. Außer natürlich, in einem Lied. Der Gedanke, dass Worte, die schon für seine Ohren hohl klangen, zu Nelyo durchdringen konnten war unwirklich. Zögerlich griff Maglor nach der silbernen Harfe neben sich. Es dauerte eine Weile, bis er die richtigen Töne fand. Ruhig und ausgeglichen. Mit Untertönen, die ein bisschen wild waren.
Nelyo?
Töne, die in die Höhe stiegen, höher als eine Frage: Ein Flehen.
Bist du da? Bitte, antworte mir! Nelyo? Bitte...
„Kano?" Die Stimme riss Maglor aus seinen Gedanken. Tränen schossen ihm in die Augen, als er sah, dass sein Bruder sich aufgerichtet hatte. Sein Blick war verklärt und er sah an Maglor vorbei, als betrachte er eine grausame Szene der Vergangenheit.
„Kano?" Fragte er erneut mit zitternder Stimme, sodass Maglor fürchtete, er würde erneut das Bewusstsein verlieren, „Ich verstehe dich. Wieso verstehe ich dich? Es ist so dunkel."
Also spielte der Jüngere Licht. Er ließ die Seiten seiner Harfe erzittern, erzeugte einen doppelten Klang, den einen wie goldene Glöckchen, den anderen weich wie feiner Samt, um die zwei Bäume zu zeichnen. Eine folge aufsteigender Töne, hell wie der Klang eines Horns für Arien. Tilion und seine Sterne wurden zu einer Melodie aus Atemzügen: Ruhig, tiefgründig. Begleitet von glitzernden Tönen, die funkelten, wie Sterne. Weiter spielte er. Licht, immer mehr Licht. Als ihm nichts mehr einfiel, stellte er fest, dass Maedhros die Augen geöffnet hatte.
„Licht," murmelte er, sich an das alte Spiel aus ihrer Kindheit erinnernd, „goldenes Licht, das durch ein grünes Blätterdach fällt."
Tränen der Erleichterung strömten über Maglors Gesicht, als er zu einer neuen Melodie ansetzte, die sein Bruder zu verstehen wusste:
„Jemand, der nach einer langen und düsteren Nacht die Augen öffnet und feststellt: Es ist morgen."
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Die silberne Harfe
FanfictionZwei Brüder, die kaum mehr miteinander sprechen. Eine Welt, die im Chaos versinkt. Und ein Instrument, dessen Töne allein es vermögen, die Stille zwischen den zwei ältesten Söhnen Feanors mit Worten zu füllen.