EINS

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»Nein, bitte nicht Cookie!« Colin stieß einen herzzerreißenden Schluchzer aus. »Du bist echt barbarisch, du Mörder!«

Eben war ich mir noch nicht sicher gewesen, welches Kuscheltier ich als Nächstes zerstören würde, aber hiermit war meine Entscheidung gefallen.

»Nun tu mal nicht so, als hättest du das nicht verdient!«, sagte ich und griff nach dem süßen kleinen Leoparden namens Cookie.

Drei weitere Kuscheltiere lagen bereits kopflos in einer Ecke des Zimmers, bedeckt mit ihrer eigenen herausgeplatzten Füllung. Zwischen ihnen kniete Colin und versuchte nach ihnen zu greifen, doch seine Finger glitten immer wieder durch sie hindurch. Schließlich gab er auf und stieß einen Schrei aus, als wäre er soeben von einem Auto überfahren worden. Genau genommen hatte er damit bereits Erfahrung, denn vor drei Jahren war er bei einem Autounfall gestorben.

Wäre er noch am Leben, dann hätte er garantiert meinen Vater geweckt. Aber Colin war ein Geist und ich war die Einzige, die das Pech hatte, ihn hören zu können.

Tränen liefen seine Wangen hinunter, als er zu mir hinüber schaute.

»Du weißt, dass ich dich liebe.« Auf einmal klang seine Stimme klein und zerbrechlich. »Ich würde alles für dich machen und das hier ist dein Dank dafür.«

Ich stöhnte genervt auf. Vor einem Jahr hätte ich mir nie vorgestellt, die Kuscheltiere eines toten Jungen zu zerstören, aber da hatte Colin noch nicht angefangen, mich zu belästigen. Kennengelernt hatte ich ihn, als mein Vater und ich bei unseren Nachbarn, Colins Eltern, zum Essen eingeladen worden waren.

Damals hatte ich den Fehler gemacht, Colin drei Sekunden lang anzugucken, und seitdem ihm bewusst geworden war, dass ich ihn sehen konnte, hatte er mir fast täglich Liebesgedichte geschrieben. Nächste Woche würde ich wegziehen, auf ein Internat mitten im Nirgendwo, und mir grauste es bei der Vorstellung, dass Colin mir dorthin folgte.

Also musste ich ihn loswerden.

Die einfachste Art, von einem Geist in Ruhe gelassen zu werden, bestand darin, ihn freundlich darum zu bitten. Colin jedoch verstand kein Nein.

Er verstand kein Nein, wenn ich ihm sagte, dass er mir nicht beim Umziehen zugucken durfte und er verstand kein Nein, wenn ich ihm sagte, dass er mich nicht küssen durfte.

Das war so ziemlich das größte Problem der Geister. Dass ich sie nicht nur sehen und hören, sondern manchmal auch spüren konnte. Der Kuss hatte sich angefühlt, als hätte jemand einen nassen Waschlappen in meinen Mund gesteckt, in dem Versuch, mich zu ersticken.

Die andere Art, einen Geist loszuwerden, war ein wenig komplizierter. Dafür musste man ihn für immer von der Erde verbannen und dies ging nur, indem man den Grund beseitigte, den ihn an das Diesseits band.

Dieser Grund konnte eine geliebte Person sein, ein besonderer Gegenstand, aber auch ein Mysterium, ohne dessen Aufklärung der Geist nicht loslassen konnte.

Da Colin weder eine Freundin gehabt hatte, noch auf unerklärliche Weise gestorben war, hoffte ich, dass sein Grund ein Gegenstand war. In der letzten Woche hatte ich sowohl Colins Fußballtrikot als auch einige seiner liebsten Gedicht-Sammelbände verbrannt, aber bis jetzt war er noch nicht verschwunden.

Ich krallte meine Finger in das weiche Polyesterfell von Cookies Kopf und zog an ihm, doch im Gegensatz zu den anderen Kuscheltieren saß seiner viel fester. Ich riss an seinen Ohren, krallte meine Finger in seine Schnauze, doch der Kopf blieb dran. Verdammt, so würde das nichts werden.

Entschlossen ging ich an Colin vorbei und öffnete die Zimmertür. Ich versuchte, sie so langsam wie möglich zu bewegen, dennoch quietschte sie lautstark in ihren Angeln.

Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass es bereits kurz nach Mitternacht war. Mein Vater wäre überhaupt nicht froh, wenn er wüsste, dass ich noch wach war.

Einen kurzen Augenblick hielt ich inne und horchte nach den Geräuschen im Haus, doch ich nahm lediglich das laute Surren des Kühlschranks wahr, das man selbst hier oben noch hörte.

Auf Zehenspitzen schlich ich die Treppe hinunter, hinein in die Küche, und öffnete die Schublade, in der sich der Besteckkasten befand.

Ich wollte gerade das Messer herausholen, als etwas Festes gegen meine Schulter stieß. Ich machte einen Satz zur Seite und wirbelte herum, doch es war nur Colin, der vor mir zu Boden schwebte und mich mit seinem Ellenbogen getroffen haben musste. Colin, der vor keiner Wand Halt machen musste und mich hinter jeder Ecke erschrecken konnte.

»Bitte hör auf damit!«, flehte er mich an. »Du hast schon drei unschuldige Kuscheltiere ermordet. Verschon doch wenigstens Cookie!«

»Ich habe dich gewarnt«, entgegnete ich. »Ich habe dir gesagt, wenn du mich nicht in Ruhe lässt, dann sorge ich dafür, dass du nie wieder jemand anderen belästigst.«

»Es war ein einziger Kuss!«, sagte Colin. »Ich konnte doch nicht wissen, dass du noch nicht dafür bereit warst.«

»Erstens werde ich nie bereit für einen Kuss mit dir sein und zweitens fragt man halt die andere Person, ob sie damit einverstanden ist, bevor man sie aus dem Nichts küsst!« Ich schnappte mir das größte Messer aus der Schublade. »Wenn du nicht aufhörst, mich zu belästigen, dann köpfe ich halt jedes einzelne deiner Kuscheltiere. Eines nach dem anderen.«

Als ich mit dem Messer ausholte, fingen Colins Lippen an zu zittern, doch ich dachte gar nicht daran, aufzuhören. Selbst wenn ihn Cookies Tod nicht von der Erde verbannte, würde es ihn hoffentlich davon abhalten, weiterhin meine Nähe aufzusuchen. Dass er überhaupt noch bei mir war, nachdem ich drei seiner Kuscheltiere zerstört hatte, war mir ein Rätsel. Wie grässlich musste ich noch werden, damit er mich endlich in Ruhe ließ?

Ich verzog meine Lippen zu einem – hoffentlich – diabolischen Lächeln und setzte die Klinge an Cookies Hals an. Der Stoff fing an zu reißen, als sie sich Stück für Stück hinein bohrte. Ich zog das Messer hinaus, doch bevor ich erneut zustechen konnte, stürzte sich Colin auf mich.

Das Messer rutschte aus meiner Hand und klirrte beunruhigend laut auf den weiß-rot karierten Fliesen auf, als er mich zu Boden riss.

Die Wucht riss mich nach hinten und ich knallte mit meinem Rücken auf den steinharten Boden, dicht gefolgt von meinem Kopf. Pochender Schmerz machte sich in mir breit und ich biss die Zähne zusammen.

Stolpernd ließ Colin von mir ab.

»Sorry«, sagte er, die Augen weit aufgerissen. »Das war mehr Wucht als erwartet. Habe ich dir wehgetan?«

»Ist das dein Ernst?« Jedes einzelne meiner Körperteile tat weh und ich war nur allzu bereit, ihm eine Standpauke zu halten, aber als ich die knarzende Tür von Dads Schlafzimmer hörte, wusste ich, dass ich viel größere Probleme hatte.

»Avena, bist du das?«, erklang seine schläfrige Stimme von oben. »Ist alles okay?«

Die Geister von Schloss ElinarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt