ZWEI

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»Mir geht's super«, log ich und versuchte, mich aufzusetzen, doch meine Muskeln wollten mir nicht gehorchen. »Geh du doch wieder schlafen, ich komme schon zurecht.«

Das Licht im Flur ging an und Dads Schritte erklangen auf der Treppe.

Für einen Augenblick blieb ich auf den kalten Kacheln liegen, bis es mir gelang, genug Energie zu sammeln, um mich mit einem Ellenbogen hochzustemmen. Ich zog mich an einem Schrank nach oben, griff nach dem Messer und versteckte es hinter dem Brotkorb. Ich sah mich nach Cookie um, doch der kleine Leopard befand sich in Colins Händen.

»Gib mir den Leoparden«, sagte ich, doch der blöde Geist dachte gar nicht daran, sondern ging ein paar Schritte zurück und legte ihn auf die Arbeitsfläche. Diesmal war er derjenige, der ein diabolisches Grinsen im Gesicht hatte, als er ein weiteres Messer aus der Schublade zog und es direkt neben Cookie legte. Wie schaffte er es auf einmal, alles anzufassen? Oft gelang es ihm nicht einmal, ein Staubkorn zu bewegen, aber in manchen Momenten brachte er so etwas zustande.

Mit steifen Beinen ging ich auf ihn zu, setzte ein schmerzendes Bein vor das andere, doch Dads Schritte kamen immer näher. Bevor ich Cookie erreichen konnte, kam mein Vater bereits in die Küche.

Ich riss die nächstgelegene Schranktür auf und holte ein Glas hinaus. »Ich wollte mir nur etwas zu Trinken holen«, sagte ich.

»Wo kam der Lärm her?«, fragte Dad und betrachtete das leere Glas in meiner Hand, dann wanderte sein Blick über die Arbeitsfläche. Als er den Leoparden entdeckte, blieb er stocksteif stehen. Seine Augen glitten vom halb durchtrennten Leoparden zum Messer und schließlich zu mir. Einen kurzen Augenblick bohrten seine Augen sich regelrecht in meine und dann, endlich, löste er sich aus seiner Starre und kam auf mich zu.

»Avena, was ist passiert?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern, was einen beißenden Schmerz durch meinen Rücken jagte.

»Das Übliche«, sagte ich und suchte den Raum nach Colin ab. Dieser lehnte gegen den Kühlschrank und betrachtete mich schamlos.

Dad seufzte. »Du hast wieder deine Geister gesehen«, sagte er.

Ich nickte. »Einen Geist.« Es war meistens nur derselbe Geist. Colin. Natürlich sah ich auch andere Geister, aber Colin war der einzige, der mich verfolgte. Oft bemerkte ich sowieso nicht, wenn es sich bei Menschen um Geister handelte. Wie denn auch, wenn sie nicht durchsichtig waren? Wie sollte man sie von lebendigen Menschen unterscheiden, wenn sie genauso aussahen wie eben diese lebendigen Menschen?

Dad schritt durch das Zimmer und nahm den Leoparden in die Hand. »Was ist mit dem Kuscheltier passiert?«, fragte er. »Und wo kommt der überhaupt her?«

Für einen kurzen Moment war er still, während die Zahnräder in seinem Kopf ratterten und ich hoffe, dass er für immer darüber nachdenken würde, doch natürlich arbeitete Dads Gehirn selbst mitten in der Nacht auf Hochtouren. Falten bildeten sich zwischen seinen Augenbrauen, als die Realisation eintrat. Mit finsterer Miene schaute er auf mich hinab. »Ist das nicht das Kuscheltier unserer Nachbarn? Ich bin mir sicher, dass ich ihn in dem Zimmer ihres Sohnes gesehen habe, als wir vor zwei Wochen bei ihnen zum Essen eingeladen waren.«

»Vielleicht«, murmelte ich kleinlaut. Dad wusste nicht, dass Colin mir erschien. Er wusste, dass ich die Geister sah, aber über die Details redete ich nur mit meiner Psychotherapeutin Frau Keller. Dad war sowieso der Meinung, dass meine Geister nur Halluzinationen waren. Ich selbst ... Nun, ich war mir da nicht mehr ganz so sicher. Die Geister wussten Dinge, die mein Unterbewusstsein sich nie hätte ausdenken können. Deswegen hatte ich auch dem jungen Geistermädchen zwei Straßen weiter geglaubt, als sie mir erzählt hatte, dass man einen Geist loswurde, indem man das zerstörte, was ihn im Diesseits hielt.

Es war dumm gewesen, so furchtbar dumm, denn dieses kleine Experiment hatte rein gar nichts gebracht. Colin war immer noch hier und jetzt hatte ich noch mehr Probleme.

Was hatte ich denn auch erwartet? Dass sein Abbild sich in Luft auflösen würde, nur weil ich ein paar Kuscheltieren den Kopf abriss? Höchstens würde mich das in eine psychiatrische Klinik bringen und selbst dahin würde Colin mir folgen können.

»Avena!« Ich schaute auf und erblickte Dad, der ungeduldig vor meinem Gesicht mit den Fingern schnippte. »Könntest du mir bitte zuhören?«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«

»Was hast du dir dabei gedacht, diesen Leoparden zu klauen?«

»Ich weiß nicht«, log ich.

»Das kann so nicht weitergehen«, sagte Dad. »Die Geister. Es werden immer mehr und jetzt hast du auch noch ein Kuscheltier von Colin geklaut. Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn du dieses Jahr aufs Schloss Elinar gehst. Vielleicht nächstes Jahr, wenn –«

»Nein, bitte nicht!«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich kann nicht noch ein Jahr warten.«

»Avena, dir geht es nicht gut«, widersprach Dad. »Du siehst tote Menschen. Es ist garantiert nicht förderlich für dich, wenn du an den Ort zurückkehrst, wo Rosa gestorben ist.«

Bei der Erwähnung von meiner Cousine machte sich ein unangenehmes Gefühl in mir breit. Wie ein schwarzes Loch, das sich in meinem Herzen einnistete und immer größer wurde, bis es jegliche Hoffnung und Freude verschlang. Ich sah Rosas Gesicht vor mir, so deutlich, als könnte ich es anfassen, und doch wusste ich, dass ich sie nie wieder würde anfassen können.

»Dad ...« Ich zog das Wort in die Länge, um darüber nachzudenken, was ich als nächstes sagen wollte.

Ich musste zurück. Nicht, weil ich Schloss Elinar gern hatte. Im Gegenteil. Noch heute hatte ich regelmäßig Albträume davon, wie ich mitten in der Nacht alleine durch das gruselige Schloss rannte, um auf die Toilette zu gehen. Durch die scheinbar endlos langen Gänge mit den dunklen Ecken, in denen ich immer Angst hatte, von Ungeheuern überfallen zu werden.

Aber Rosa war dort gewesen. Meine Cousine, mit der ich zusammen auf das Internat gegangen war, bis sie dort starb. Rosa war 16 Jahre alt gewesen, ich gerade einmal zehn. Sie war aus einem Fenster gefallen.

»Es war ein Unfall.« Das hatten alle gesagt. Und ich hatte es geglaubt.

Aber vor kurzem war ein weiteres Mädchen im Internat gestorben. Ein weiterer Unfall, der kein Zufall sein konnte. Darin war ich mir sicher, seitdem ich Rosas Tagebuch gefunden hatte, in dem sie beschrieb, wie sehr sie Höhen fürchtete. Dass sie weinend am Fuß der Treppe zurück geblieben war, als ihre Klasse im Kunstunterricht einen Ausflug in den Turm gemacht hatte, um die Landschaft zu zeichnen.

Niemals wäre sie freiwillig nach oben gegangen. Irgendetwas war passiert.

Jemand hatte sie getötet und ich musste herausfinden, wer es war, aber das konnte ich nicht, wenn ich hier blieb.

»Ich muss zurück«, sagte ich. »Ich vermisse Rosa. Jeden Tag. Ich wünschte so sehr, dass ich mehr Zeit gehabt hätte, um sie kennenzulernen. Zurück zu dem Internat zu gehen, ist der einzige Weg, um ihr näher zu sein. Bitte, das kannst du mir nicht verbieten.«

Dad seufzte. »Natürlich werde ich es dir nicht verbieten. Ich denke nur nicht, dass es das Beste für dich ist. Hast du keine Angst, dass dir Rosa erscheinen wird?«

Ich hoffte darauf, dass ich sie im Schloss finden würde, aber das konnte ich ihm schlecht sagen. Ihn beunruhigte es, dass ich Geister sah. Vermutlich, weil er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden wollte, dass ich Halluzinationen hatte.

»Meinst du nicht, wenn ich sie sehen könnte, dann hätte ich ihren Geist schon längst entdeckt?«, fragte ich.

»Du hast mir erklärt, dass du den Geistern oft an den Orten begegnest, an denen sie gestorben sind. Aber wenn du unbedingt auf das Internat willst, dann werde ich dich nicht aufhalten.« Dad drückte mir den Leoparden in die Hand. »Ich erwarte, dass du das Kuscheltier anständig flickst und es morgen unseren Nachbarn zurückgibst. Bis dahin wird dir hoffentlich eine gute Entschuldigung eingefallen sein.«

Die Geister von Schloss ElinarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt