DREI

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Die restliche Woche ging Colin mir aus dem Weg und ich hatte die Hoffnung, dass er mich nun endlich leid hatte und mich in Ruhe lassen würde, doch als ich am Montagmorgen meinen Koffer in das Auto hievte und mich in den Beifahrersitz setzte, hatte Colin es sich schon auf der Rückbank gemütlich gemacht.

»Ich kann es kaum erwarten, das Schloss zu sehen!«, sagte er, als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen.

Kurz darauf startete Dad das Auto und wir fuhren los. Es war sonnig draußen. Verschwommen zogen erst Häuser, dann nichts als grüne Bäume und Felder an mir vorbei, aber das war auch das Einzige, was ich von meiner Umgebung wahrnahm.

Nach einigen Stunden fing Colin an, an meiner Lehne zu rütteln, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen, doch seine Hände glitten nur widerstandslos hindurch. Ich kuschelte mich in den Sitz und schaute auf mein Handy. Eine neue Nachricht von Delia leuchtete auf dem Bildschirm auf.

»Wann bist du da?«

Delia war die einzige Person vom Schloss Elinar, zu der ich noch immer Kontakt hatte. Wenn man unseren Austausch überhaupt als »Kontakt« bezeichnen konnte. Alle paar Monate hatten wir uns einige wenige Nachrichten geschickt und es fühlte sich seltsam an, dass ich sie in ein paar Stunden zum ersten Mal seit sechs Jahren wieder sehen würde. Bei dem Gedanken daran spürte ich einerseits ein freudiges Kribbeln in meiner Magengegend und andererseits hatte ich Angst, dass wir uns nicht mehr verstehen würden. So viel Zeit war vergangen. Zeit, in denen wir uns beide verändert hatten.

Ich schaute auf das Navi.

»In zehn Minuten sollten wir ankommen«, lautete meine Antwort an Delia.

Ich navigierte zu meinen Downloads und öffnete den Zeitungsartikel, den ich in den letzten Monaten beinahe jeden Tag angeschaut hatte.

Der meiste Kram war unwichtig. Eine Ankündigung über ein bevorstehendes Sommerfest, eine andere über die Neueröffnung des italienischen Restaurants in der Stadt. Und dann, auf der zweitletzten Seite, die dünne Zeile mit den Todesanzeigen.

Sie war leer bis auf einen einzigen Eintrag:

»Vanessa. Geboren am 29.12.2014, gestorben am 14.02.2023.

Am Morgen des 15.02.2023 wurde Vanessa, 8 Jahre, tot auf dem Grundstück des Internats Schloss Elinar aufgefunden. Sie war alleine unterwegs, als sie in den Fluss fiel und ertrank. Eltern und Freunde trauern um sie.«

Das war alles, was ich über sie gefunden hatte. Vanessa. Kein Nachname, nur die kurze Beschreibung, wie sie gestorben war und ihr Geburts- und Todestag. Ich hatte stundenlang damit zugebracht, nach weiteren Informationen über sie zu suchen, aber ich hatte nichts gefunden.

Dieser kurze Text war der einzige Hinweis darauf, dass ein Mörder sein Unwesen im Internat trieb. Dieser Text und der Tod von Rosa.

Wie schon unzählige Male zuvor, tippte ich Vanessas Namen in Kombination mit der Schule in der Suchleiste ein. Ergebnisse tauchten auf, doch keins davon war neu. Natürlich nicht. Ich packte das Handy in meine Tasche, als plötzlich eine Hand aus meiner Körpermitte hinaus schnellte.

»Aaaah!« Ich schmiss mich nach vorne, ruckartig gestoppt von meinem Anschnallgurt und drehte mich zu Colins um, dessen Arm noch immer in der Lehne steckte.

Dad warf mir einen verwirrten Seitenblick zu.

»Ist alles okay?« Wenn ich jedes Mal, wenn er diese Frage stellte, einen Euro erhalten würde, wäre ich jetzt reich.

»Ja«, sagte ich und zeigte Colin unauffällig den Mittelfinger. Wieso musste er auch so nervig sein? Warum konnte er nicht wenigstens ein kleines bisschen von Autos traumatisiert sein, nachdem er selbst von einem überfahren worden war?

Die Geister von Schloss ElinarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt