VIER

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Erst als ich ihren Namen hörte, realisierte ich, wen ich da vor mir hatte. Mein Blick wanderte von ihrer Schuluniform bis zu ihrer kleinen Stupsnase und den dunkelbraunen Augen. Sie war größer geworden, ihre Gesichtszüge definierter, aber das war auch das einzige, was sich an ihr verändert hatte. Ansonsten sah sie noch genauso aus wie vor sechs Jahren.

Thi. Die kleine, perfekte Thi. Jedenfalls hatte sie auf alle anderen immer perfekt gewirkt. Ich hingegen wusste, dass sie das ganz und gar nicht war.

Dad stupste mich sanft an. »Willst du dich nicht vorstellen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Wir kennen uns schon«, erklärte ich.

Thi runzelte die Stirn und betrachtete mich.

Auf einmal fühlte ich mich viel zu leicht bekleidet. Ich hatte eine Hotpants an, doch das größte Problem war mein weißes T-Shirt, das mir aufgrund der Hitze wortwörtlich an der Haut klebte.

This Augen jedoch glitt darüber hinweg. Stattdessen blieb ihr Blick an meinem Gesicht hängen. »Avena?«, fragte sie, ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Ich hätte dich fast gar nicht erkannt mit deinen braunen Haaren.«

Richtig, da war ja etwas. Vor einer Woche hatte ich meine roten Haare spontan getönt, mit einer Farbe aus der Drogerie.

Aus dem einfachen Grund, weil ich Bock darauf gehabt hatte. Alle Menschen waren mir immer mit Entsetzen begegnet, sobald ich erwähnt hatte, dass ich meine Haarfarbe ändern wollte. »Tu das bloß nicht, deine Naturhaarfarbe ist so schön«, hieß es dann immer.

Aber ich hatte keine Lust mehr, das zu tun, was andere Menschen von mir erwarteten.

Und Colin hatte mir dabei erstaunlicherweise geholfen. Er war dabei gewesen, hatte mir bei der Farbauswahl geholfen und mich informiert, wenn ich beim Auftragen am Hinterkopf eine Stelle ausgelassen hatte.

Seitdem schrieb er in seinen Gedichten nicht mehr von meinen wunderschönen Haaren, die ihn an einen Sonnenaufgang erinnerten, sondern von meinen kastanienbraunen, die er nicht weniger bewunderte.

»Wir sollten zuerst zum Sekretariat«, sagte Thi. »Dort können wir deinen Zimmerschlüssel abholen.«

Wir folgten ihr die Treppe nach oben und sobald wir die Eingangshalle verließen, wurde es belebter im Schloss. Es wimmelte regelrecht von Schülern jeden Alters.

Aus den Augenwinkeln sah ich einen, der sich galant vor mir verbeugte und als ich mich zu ihm umdrehte, entdeckte ich eine apfelgroße Platzwunde an seinem Hinterkopf. Schaudernd richtete ich meinen Blick wieder nach vorne, ging einige Schritte und blieb ruckartig stehen, um nicht in ein kleines Mädchen mit einem rosa Pullover hineinzulaufen. Das Mädchen jedoch lief weiter und glitt durch mich hindurch.

Verdammt. Das waren gar keine Schüler, sondern Geister. Und zwar so viele, wie ich in meinem Leben noch nicht gesehen hatte.

Das Mädchen mit dem rosa Pullover, der Junge mit der Platzwunde, der schwarzhaarige Schüler, der gerade Richtung Decke schwebte. Sie alle existierten gar nicht wirklich.

Und der Rest? Nun, ich hatte schnell den Überblick verloren, wer davon alles lebendig war.

Möglichst unauffällig wich ich einem weiteren Schüler aus und reihte mich hinter Thi ein, blieb dicht hinter ihr, um nicht aus Versehen einen von den Lebenden anzurempeln.

»So viele Geister!«, sagte Colin, der gerade seinen Kopf durch eine der Wände gesteckt hatte. »Das hier ist ein richtiges Geisterschloss!«

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis drehte und dabei einen kleinen Geisterjungen erwischte, der mit einem Schrei zu Boden fiel.

Die Geister von Schloss ElinarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt