Bis zur Mittagspause hatten wir nur noch drei Schulstunden, und doch kam die Zeit mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Als endlich die Schulglocke vor der Mittagspause erklang, stürmte ich regelrecht nach draußen, denn ich musste schon seit gut einer Stunde auf die Toilette. Ein Schild stand vor dem Eingang, das mich informierte, dass der Boden feucht war, weil vor kurzem geputzt wurde. Ich beachtete es nicht weiter.
Als ich jedoch mit dem Pinkeln fertig war und gedankenversunken den Wasserhahn aufdrehte, stieß ich einen kleinen Schrei aus. Eine dickflüssige rote Flüssigkeit bedeckte das ganze Waschbecken. Als hätte jemand ein Kaninchen darin ermordet. Oder als hätte jemand einen Menschen getötet und danach seine blutigen Hände darin gewaschen. Ich machte einen Schritt zurück, doch mein Fuß rutschte über den feuchten Boden nach hinten. Haltsuchend wedelte ich mit meinen Armen, in der Hoffnung irgendetwas zu greifen, doch da war nichts, abgesehen von dem blutgetränkten Waschbecken, aus dem noch immer das Wasser prasselte. Ich versuchte mein Gleichgewicht wieder zu erlangen, doch nun fing auch mein zweiter Fuß an zu rutschen. Für einen Moment schien die Zeit stehenzubleiben, dann verlor ich komplett die Balance und knallte mit meinem Po auf die harten Kacheln.
Mein Hintern fühlte sich nass an und tat höllisch weh. Warum auch musste ich mich so oft hinpacken?
Ich stützte mich am Boden ab und rappelte mich auf.
Zögerlich ging ich auf das Waschbecken zu. Ohne dass es verhindern konnte, stellte ich mir vor, dass das Blut Rosas war. Dass ihr Mörder sich präsentabel machte, nachdem er sie umgebracht hatte.
Doch Rosas Mörder hatte sich die Hände nicht dreckig gemacht. Er war vermutlich gar nicht mit ihrem Blut in Berührung gekommen.
Ich drehte den Wasserhahn aus, darauf bedacht, die rote Flüssigkeit nicht zu genau anzugucken, dann wusch ich mir in einem anderen Waschbecken die Hände ab.
Woher kam das Blut? War ich irgendjemandem begegnet auf dem Weg hierher? Ich versuchte mich zurückzuerinnern, doch in meiner Eile waren die vorbeilaufenden Menschen zu einer Masse verschmolzen.
Vielleicht war es eine Halluzination. Es musste eine Halluzination sein, oder? So wie die Geister es waren. Denn warum sollte jemand seine blutigen Hände auf der Mädchentoilette waschen, ohne die Spuren zu beseitigen?
Ich nahm mir vor, die anderen zu fragen, doch bevor ich die Toilette verließ, zögerte ich.
Ich hatte gar keine Lust, dass die ganze Schule meinen nassen Po sah. Hatte ich denn gar nichts mit, was ich überziehen könnte? Nein, natürlich nicht, denn alle meine Wechselklamotten befanden sich in meinem Zimmer. Aber ich hatte immer noch meinen Schulpullover an, der eigentlich etwas anderes hatte bedecken sollen.
Ich zog ihn aus und band ihn mir um die Hüfte. So war zwar mein zerknittertes Hemd sichtbar, aber das war besser als die Alternative.
Ich ging auf den Gang hinaus und wollte mich auf den Weg zur Mensa machen, doch zu meinem Bedauern hatte ich keine Ahnung, wo diese sich befand. Ich ging zurück zum Klassenraum und atmete erleichtert aus, als ich Delia sah, die als einzige noch vor der Tür stand.
»Delia, was machst du noch hier?«, fragte ich.
»Ich habe auf dich gewartet«, erklärte sie. »Thi meinte, du kennst dich nicht mehr so gut aus und hatte Angst, dass du die Mensa nicht findest.«
»Thi hatte Angst?« Ich runzelte die Stirn. »Danke, Delia.«
Die Mensa war riesig. Die Fläche war viermal so groß wie die der Kirche und an den Wänden befanden sich mehrere deckenhohe Malereien. Eines davon stellte einen Soldaten auf einem Pferd da, der gerade dabei war, einen anderen Mann niederzustechen. Ein anderes Bild zeigte zwei Männer bei einem Schwertkampf. Es waren ziemlich unpassende Bilder für einen Saal, in dem man seine Mahlzeiten zu sich nahm, wie ich fand.
Gegenüber dem Eingang der Mensa befand sich die Essensausgabe mit digitalen Anzeigen, die die heutigen Gerichte preisgaben. Soweit ich das auf den ersten Blick erkennen konnte, gab es vier gewöhnliche Hauptgerichte zur Auswahl, doch das war noch nicht alles, denn am Rande befand sich eine weitere Ausgabe mit kleineren Mengen an gluten- und laktosefreien Gerichten.
Abgesehen davon gab es mehrere Beilagen, darunter Kartoffeln und ein grünes Gemüse, das sich als Romanesco bezeichnete.
»Was zum Teufel ist Romanesco?«, fragte ich.
»Das ist eine Kreuzung zwischen Brokkoli und Blumenkohl«, erklärte Delia. »Probier das mal. Es schmeckt gar nicht so schlecht.«
Thi stellte sich neben uns. »Falls du noch eine Empfehlung brauchst«, sagte, »dann nimm dir den Wackelpudding. Der ist auch richtig gut.«
Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Schon immer hatte ich die Konsistenz von Wackelpudding gehasst und ich war mir sicher, dass Thi das wusste. Warum sollte sie sich Sorgen machen, dass ich die Mensa nicht fand, nur um jetzt so etwas Fieses von sich zu geben? Vermutlich war das eine Lüge von Delia gewesen, um uns näher zusammenzubringen.
Anstatt Thi zu antworten, schaute ich unschlüssig von einer Ausgabe zur anderen, während Thi und Delia sich in der Schlange zu den Burgern einreihten. An meiner alten Schule hatte es ein Gericht pro Tag gegeben, aber hier gab es so viel, dass ich mich gar nicht entscheiden konnte.
Schließlich wählte ich die Lasagne und füllte mir einige der Romanesco-Röschen auf. Ich hätte mich in der Pause gerne mit Delia unterhalten, aber die saß bereits mit Thi an einem Vierertisch. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen. Sie wirkten wie beste Freunde, was mir einen kleinen Stich im Magen versetzte. Ich wollte mit Delia Zeit verbringen, unsere Freundschaft vertiefen, aber wie war das möglich, wenn sie sich die ganze Zeit mit Thi, meiner allergrößten Feindin, abgab?
Delia winkte mich zu ihr, doch ich tat so, als hätte ich sie nicht gesehen und machte mich auf den Weg zu drei Jungs aus meiner Klasse.
»Hey«, sagte ich und ließ mich auf dem letzten freien Platz nieder. Vielleicht war es komisch von mir, mich zu Menschen zu setzen, mit denen ich noch kein Sterbenswörtchen geredet hatte, allerdings war alles besser, als eine weitere Minute This blöden Kommentare zu ertragen.
»Sind eure Toiletten eigentlich auch so seltsam?«, fragte ich, in der Hoffnung, damit mehr über das Blut im Waschbecken in Erfahrung zu bringen.
»Ach, das ist ganz normal, das passiert ständig«, sagte ein Typ, dessen Gesicht nur aus schwarzen, struppigen Haaren bestand. Ich meinte mich daran zu erinnern, dass er seit einem Jahr auf der Schule war und Jaden hieß, aber vielleicht war es auch Jonathan gewesen. Irgendwas mit »J« auf jeden Fall.
»Ständig?« Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Blut in Waschbecken normal war.
»Wenn das passiert, dann warte einfach ein paar Minuten«, sagte ein anderer Junge. »Dann sollte die Spülung wieder funktionieren.«
»Oh.« Sie sprachen also von einem anderen Problem. Eventuell hätte ich meine Frage anders formulieren sollen, aber ich beließ es dabei. Schließlich wollte ich nicht als das Mädchen bekannt sein, das sich einbildete, Blut auf den Toiletten zu sehen.
Vermutlich sollte ich mir keine Sorgen darum machen. Schließlich könnte es Periodenblut sein. Das Periodenblut von fünf oder mehr Mädchen, die sich aus heiterem Himmel gedacht hatten, es im Waschbecken zu entleeren.
Ja, schon klar.
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Die Geister von Schloss Elinar
FantasyWenn sie wach ist, sieht sie Geister. Nachts, in ihren Träumen, sieht sie ihre Cousine Rosa, wie sie aus dem höchsten Turm ihres Internats in den Tod fällt. Damals hatte Avena sich geschworen, nie wieder zum Schloss Elinar zurückzukehren, doch nun s...