»Du warst die einzige, die Zugriff auf unser Zimmer hatte.«
»War ich nicht.« Thi runzelte die Stirn. »Der Schuldirektor besitzt einen Universalschlüssel. Die Reinigungskräfte auch. Jeder könnte einen davon geklaut und bei uns eingebrochen sein.«
Thi starrte mich an, als wäre ich diejenige, die ihr Herz gebrochen hätte. »Avena, ich finde es sehr scheiße von dir, wie wenig Vertrauen du in mich hast. Wir waren vier Jahre lang befreundet und du glaubst mir nicht, wenn ich dir sage, dass ich es nicht war. Deine Reaktion ist komplett übertrieben.«
Im ersten Moment spürte ich Wut in mir brodeln, doch dann sickerte die Bedeutung ihrer Worte zu mir durch. Vielleicht hat sie recht, dachte ich.
Bis jetzt hatte ich ihr keine richtige Chance gegeben, mit mir darüber zu reden. Und dass sie mich fühlen ließ, als hätte sie recht, verärgerte mich noch mehr.
Sie hatte mich hintergangen, verdammt noch mal. Und jetzt versuchte sie so zu tun, als wäre sie unschuldig. So wie sie es immer machte.
»Ich übertreibe?«, fragte ich. »Ist das dein Ernst? Du hast mich traumatisiert.« Nach Thi war es mir schwer gefallen, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Neue Freunde zu finden, war beinahe unmöglich gewesen. Zeitweise war Delia meine einzige Freundin gewesen und das, obwohl wir monatelang keinen Kontakt gehabt hatten.
Thi rollte mit den Augen. »Es ist fast sechs Jahre her«, sagte sie. »Ja, Avena, ich würde behaupten, dass du übertreibst.«
Ich wandte mich ab. Sechs Jahre war es auch her, dass Rosa gestorben war. War es deswegen einfacher, über sie nachzudenken? Ein wenig, aber ich vermisste sie nicht weniger als damals.
Und Thi war zwar nicht an dem Trauma schuld, aber an dem Giraffen-Trauma schon.
Eine unangenehme Stille senkte sich über den Klassenraum, die es nicht einmal Colin wagte zu unterbrechen. Sie war so unangenehm, dass ich erleichtert war, als unsere Lehrerin, eine kurvige Dame mit einem gelben Seidenschal und grauschwarzen Haaren, zu uns stieß und die Stille mit einem viel zu motivierten »Buona giornata« unterbrach. Und das, obwohl ich Unterricht normalerweise so gar nicht ausstehen konnte.
Drei sehr lange Stunden später war der Schultag vorbei. Zum Glück hatte ich nach Italienisch keinen weiteren Unterricht mit Thi zu zweit gehabt, sondern Philosophie mit der Hälfte der Klasse. Trotzdem spürte ich die ganze Zeit eine unangenehme Spannung zwischen uns. Einerseits war ich sauer auf sie und verspürte das Bedürfnis ihr zu sagen, wie blöd ich sie fand und gleichzeitig wollte ich so wenig mit ihr zu tun haben wie möglich.
Nach der letzten Stunde wollte ich mich auf den Weg zur Mensa machen, doch als ich dort ankam, gab es noch kein Essen.
Ich schaute auf meinen Stundenplan und erfuhr, dass der Unterricht zwar um 17:15 endete, das Abendessen aber erst um 18:00 Uhr anfing.
Schon seit Anfang der letzten Doppelstunde fühlte ich mich unendlich müde. Teilweise hatte ich gedacht, der Schultag würde nie aufhören.
Doch obwohl ich nichts lieber machen würde, als mich irgendwo hinzulegen, bis es Zeit fürs Essen war, hatte ich wichtigeres zu tun.
Ich war hierhergekommen, um Rosa zu finden. Gestern war es zu spät gewesen, um noch irgendetwas zu machen, aber jetzt hatte ich Zeit dafür.
Ich fing beim Turm an. Es dauerte einige Zeit, bis ich ihn fand, aber letztendlich stand ich auf dem Innenhof und starrte zum Turm hoch. Das Fenster, von dem Rosa gestürzt war, war dunkel.
Ihr Geist war nirgendwo zu finden. Nicht auf der Wiese und auch nicht in den umliegenden Gängen. Den Turm selbst konnte ich nicht überprüfen, da der Zugang versperrt war.
Schließlich ging ich zurück zum Innenhof. Er bestand hauptsächlich aus Wiese und sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, was seltsam war, da ich den Rest des Schlosses kaum noch kannte. In den Beeten, die sich am Rande des Hofes befanden, wuchsen Rosen, einige rot, andere gelb.
Nichts deutete darauf hin, was hier passiert war.
Eine Schülerin war hier gestorben, verdammt noch mal, doch es gab keine Gedenktafel und nicht einmal kein Kreuz.
Keinen einzigen Hinweis, der an sie erinnerte.
Außer meine Erinnerungen, die mehr und mir zu mir hindurch drangen, je länger ich mich auf dem Platz aufhielt.
Ich war in meinem Bett gewesen, als ich es erfahren hatte.
Einer der Jungs hatte es mir gezählt. Ich wusste nicht, wer es gewesen war, erinnerte mich nur an seine Worte. »Rosa ... sie ... Es ist was schlimmes passiert.«
Ich hatte es nicht glauben wollen, bis ich fünf Minuten später selbst am Innenhof stand. Mir war es nicht erlaubt gewesen, ihn zu betreten. Die Polizei war schon da gewesen und hatte das Gebiet abgesperrt. Aus dem Fenster hatte ich sie beobachten können. Rosas Körper, der reglos auf der Wiese lag. Die leichte Regung der Grashalme im Wind. Das Blut. Rettungssanitäter waren hektisch hin und her gegangen, obwohl sie nichts hatten retten können.
Rosa war schon längst verloren gewesen, als man sie gefunden hatte.
Tränen liefen mir die Wangen hinunter und hinterließen einen salzigen Geschmack auf meinen Lippen.
Einige Minuten blieb ich auf der Wiese stehen, lediglich unterbrochen von Weinkrämpfen, die meinen ganzen Körper erschütterten. Dann kehrte ich dem Platz den Rücken zu.
Ich ertrug es nicht länger.
Es war mir egal, wer mich sah. Manchmal war es mir unangenehm, wenn Menschen mich weinen sahen. Oft sogar. Aber gerade fühlte ich mich zu hoffnungslos, um mich darum zu sorgen.
Ich stürmte an Schülern und Geistern vorbei, ignorierte die teils besorgten, teils fragenden Blicke und ging auf mein Zimmer.
Später würde ich weiter nach Rosa suchen. Später, wenn ich wieder dazu imstande war, einen klaren Gedanken zu fassen und nicht mehr in meiner eigenen Trauer zu erstickte.
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Die Geister von Schloss Elinar
FantastikWenn sie wach ist, sieht sie Geister. Nachts, in ihren Träumen, sieht sie ihre Cousine Rosa, wie sie aus dem höchsten Turm ihres Internats in den Tod fällt. Damals hatte Avena sich geschworen, nie wieder zum Schloss Elinar zurückzukehren, doch nun s...