»Avena!« Colin rannte hinter mir her. »Avena, warte!«
Ich drehte mich zu ihm um. »Was denn?«
»Du bist einfach an der Mensa vorbeigelaufen«, sagte er.
Er hatte recht. Wir befanden uns in dem Gang vor dem Sekretariat.
Innerlich fluchte ich. In meinen Gedanken war ich noch immer bei Rosa gewesen.
Ich drehte mich um und lief zurück.
»Sieht man mir an, dass ich geweint habe?«, fragte ich.
Colin betrachtete mich von der Seite. »Dein Gesicht ist ein wenig geschwollen, aber ich hätte es nicht gemerkt, wenn du mich nicht darauf angesprochen hättest.« Seine Stimme klang ungewohnt sanft. »Warum hast du geweint? Ist es wegen Rosa?«
»Ja.«
»Gibt es irgendetwas, was ich für dich tun kann?«, fragte Colin.
Ich fing an, den Kopf zu schütteln, doch mitten in der Bewegung hielt ich inne. Colin war zwar ein nerviger Junge, aber im Gegensatz zu mir konnte er Geister viel besser von den Lebenden unterscheiden und manchmal, so wie jetzt, war er eigentlich ganz nett.
»Kannst du mir helfen, Rosa zu finden, oder, falls sie nicht mehr hier ist, wenigstens ihren Mörder?«
Colin nickte. »Natürlich helfe ich dir«, sagte er. »Dafür musst du mich nicht fragen. Das ist doch selbstverständlich.«
Diesmal rannte ich nicht an der Mensa vorbei, sondern betrat sie und nahm mir etwas zu essen. Zur Auswahl gab es die Reste vom Mittagessen und, als Alternative, Brot mit verschiedenen Aufschnitten. Ich nahm mir einen Burger und setzte mich an einen der leeren Tische.
»Avena?«, fragte Colin, als er sich neben mich setzte.
»Nein, du darfst nichts von meinem Essen abhaben«, entgegnete ich.
»Das wollte ich gar nicht fragen. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leid tut, dass ich dich geküsst habe. Aber könntest du mir bitte versprechen, nicht noch einmal meine Kuscheltiere zu zerhacken?«
»Ich kann dir nichts versprechen«, erwiderte ich. »Das hängt ganz von deinem Verhalten ab.«
Den Burger schlang ich in wenigen Minuten hinunter, damit Colin und ich uns an die Arbeit machen konnten.
»Wie hast du vor, Rosa zu finden?«, fragte Colin.
»Da ich sie nicht an ihrem Todesort gefunden habe, würde ich vorschlagen, dass wir als nächstes in ihrem ehemaligen Zimmer suchen«, sagte ich. »Wenn wir damit keinen Erfolg haben, können wir die Geister befragen. Dafür bist du nützlich, denn ich würde vermutlich aus Versehen einen der Lebenden ansprechen und das würde peinlich für mich enden.«
Delias damalige Zimmernummer hatte ich in ihrem Tagebuch gefunden: SC401. Es befand sich ein Stockwerk über meinem.
Als ich vorsichtig anklopfte, öffneten mir zwei Grundschüler die Tür.
»Ja?«, fragte eine. Von Rosa fehlte jegliche Spur.
Wortlos starrte ich ihr entgegen. Ich war davon ausgegangen, dass das Zimmer leer wäre.
»Frag, ob sie dir einen Klebestift ausleihen können!«, schlug Colin war.
Sein Vorschlag war gut, denn die Mädchen hinterfragen mich nicht und eine Minute später ging ich mit dem Klebestift die Treppe nach unten. Ich würde ihn später zurückgeben.
»Dann fangen wir mal mit Plan B an«, sagte ich.
Wir brauchten nicht lange, um den ersten Geist zu finden.
»Hi«, sprach ich ihn an, nachdem ich sichergestellt hatte, dass gerade niemand anderes in der Nähe war.
Der Junge blickte auf. Er hatte blonde Haare, die ihm zu allen Seiten abstanden, und ein kleines Muttermal an seiner Nase.
»Könntest du mir mit einer Frage weiterhelfen?«, fragte ich.
Er nickte.
»Kennst du womöglich ein Geistermädchen unter dem Namen Rosa?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Wirklich nicht?«, hakte ich nach. »Sie sieht ungefähr so aus wie ich, bloß dass ihre Augen braun und nicht blau sind – und ihre Nase ist etwas kleiner. Warte, ich kann dir ein Foto zeigen.«
Ich zeigte ihm ein Foto auf meinem Handy, auf dem Rosa und ich im Urlaub zu sehen waren. Darauf schaute ich zur Seite, abgelenkt von einigen Kindern, die im Hintergrund Drachen steigen ließen, doch Rosa lächelte breit in die Kamera.
»Wow, sie sieht dir wirklich sehr ähnlich", sagte Colin, der seinen Kopf über die Schulter des Jungen streckte. »Sind ihre Haare von Natur aus braun?«
Ich nickte, doch der blonde Geisterjunge schüttelte den Kopf. »Sorry, ich habe sie noch nie gesehen.«
Colin und ich gingen weiter, befragten ein Mädchen, das nicht viel älter aussah als ich.
»Sie ist vor sieben Jahren gestorben«, sagte ich, doch das Mädchen erwiderte, dass sie noch nie von ihr gehört hatte.
»Kennst du dieses Mädchen?«, fragte ich die nächste Person, einen Jungen mit Sommersprossen.
Der Junge hielt inne. »Ist das Rosa?«, fragte er.
Ich konnte es kaum glauben. »Du kennst sie? Weißt du, wo sie ist?«
Doch der Junge schüttelte den Kopf. »Ich habe sie seit über einem halben Jahr nicht gesehen. Sie ist einfach verschwunden.«
»Verschwunden?«, fragte ich. Geister verschwanden nur, wenn man das zerstörte, was sie im Diesseits hielt. Was, wenn ...
Ein halbes Jahr!
Vanessa war im Februar gestorben. Vielleicht war Rosa dabei gewesen. Vielleicht hatte sie gesehen, wer sie getötet hatte und diese Person war die gleiche gewesen, die auch Rosa ermordet hatte. Vielleicht war es ihr mit diesem Wissen möglich gewesen, sich vom Diesseits zu trennen. Weil sie das unbekannte Mysterium gelöst hatte.
Aber das würde bedeuten, dass ich sie nie wiedersehen würde. Es würde auch bedeuten, dass sie wirklich ermordet wurde. Und wenn ihr Mörder noch da draußen war, dann musste ich ihn finden, um ihn daran hindern, weitere Kinder zu töten.
»Der Tod von Rosa und Vanessa könnte miteinander verbunden sein. Wir sollten mehr über sie herausfinden«, erklärte ich Colin, bevor ich mich wieder an den Jungen wandte. »Kennst du zufälligerweise ein Mädchen namens Vanessa?«
Doch der schüttelte den Kopf und selbst nachdem wir zehn weitere Geister befragt hatten, schien keiner Vanessa zu kennen.

DU LIEST GERADE
Die Geister von Schloss Elinar
FantasyWenn sie wach ist, sieht sie Geister. Nachts, in ihren Träumen, sieht sie ihre Cousine Rosa, wie sie aus dem höchsten Turm ihres Internats in den Tod fällt. Damals hatte Avena sich geschworen, nie wieder zum Schloss Elinar zurückzukehren, doch nun s...