Feuchte Grashalme kitzelten meine nackten Füße.
In dem sanften Mondlicht konnte ich einen Turm ausmachen, der direkt vor mir bedrohlich in die Höhe ragte.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, um die Spitze zu erkennen und obwohl ich wusste, dass ich weggucken sollte, tat ich es nicht. Lange Zeit war es still, dann nahm ich ein Poltern am Fuße des Turms wahr. Ich konnte es nicht sehen, doch es hörte sich an, als würde jemand die Treppe hinunterfallen, kurz gefolgt von einem lauten Schlag von Haut auf Haut. Nur ganz leise konnte ich die Schritte auf der Treppe ausmachen. Das eine Paar schritt gezielt voran, das andere versuchte immer wieder davonzukommen.
Ich wollte loslaufen, meiner Cousine zu Hilfe eilen, doch ich konnte mich nicht bewegen, ganz so, als hätten meine Füße Wurzeln geschlagen. Langsam verklangen die Schritte und nach einer Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, erschien die Silhouette eines Lockenkopfes an der Spitze des Turms. Für einen kurzen Moment kämpfte Rosa um ihr Leben, doch es war aussichtslos. Sie wurde über das Fensterbrett gestoßen und fiel. Raste viel zu schnell auf den Boden zu. Für einen Wimpernschlag sah ich die zweite Gestalt im Fenster, doch sie drehte sich ab, noch bevor Rosa mit einem dumpfen Knall auf dem Boden aufkam.
Ich sank auf die Knie. Rosas Arm war verdreht, ihr Hals in einer Position, in der er niemals sein sollte, und ich konnte nichts anderes tun, als ihren Körper in meine Arme zu schließen. Heiße Tränen liefen über meine Wangen und ich drückte sie enger an mich, vergrub mein Gesicht in ihren Haaren, das noch immer nach ihrem Erdbeer-Shampoo duftete. In kreisenden, hilflosen Bewegungen fuhr ich ihr über den Rücken. Er war feucht von dem Blut, das ihrem Körper entwich. Ihrem Körper, der sich nie wieder bewegen würde.
Denn Rosa war schon lange fort.
»Avena!« Unsanft wurde ich gerüttelt. »Avena, wach auf!«
Ich öffnete die Augen. Über mir stand Colin und schüttelte mich.
Es dauerte einen Moment, bis ich realisierte, dass die Geschehnisse in meinem Traum wirklich passiert waren. Zwar war ich nicht dabei gewesen, aber so stellte ich es mir vor.
Rosa war tot und falls ihr Geist nicht im Diesseits geblieben war, würde ich sie nie wieder sehen können. Aber wie wahrscheinlich war es, dass sie noch hier war?
Ich drehte mich auf die andere Seite und vergrub mein tränennasses Gesicht im Kissen. »Lass mich schlafen, Colin.«
»Das geht nicht! Deine erste Stunde fängt in einer Viertelstunde an.«
Ach du Scheiße. Urplötzlich saß ich kerzengerade im Bett. Ich war mir sicher, dass ich mir vor dem Einschlafen drei Wecker gestellt hatte. Wie hatte ich es geschafft, jeden einzelnen zu verpassen?Jetzt hatte ich gerade einmal eine Viertelstunde, in der ich mich anziehen, frühstücken gehen und dann auch noch irgendwie meinen Klassenraum finden musste. Einen Raum, von dem ich keine Ahnung hatte, wo er sich befand.
Das Frühstücken konnte ich jetzt schon von meiner imaginären To-Do-Liste streichen.
»Warum hast du mich nicht früher geweckt?«, fragte ich, während ich zu meinem Koffer hastete, den ich gestern Nacht nur notdürftig ausgepackt hatte.
»Du hast gesagt, dass ich mein eigenes Zimmer suchen soll«, entgegnete Colin. »Sei froh, dass ich dich überhaupt geweckt habe!«
Ich wühlte in meinem Koffer herum, bis ich meine Schuluniform fand: Ein zerknittertes weißes Hemd und eine dunkelblaue Hose. Da das Hemd nicht wirklich präsentabel aussah, zog ich den Schulpullover drüber. Wahllos stopfte ich einige wichtige aussehende Bücher in meinen Rucksack und hoffte, dass ich halbwegs in Ordnung aussah, als ich kurz darauf das Zimmer verließ. Ich hatte exakt drei Minuten bis zum Unterrichtsbeginn.
Mit Colin im Schlepptau verließ ich den Schlafstuben-Flügel und ging hinein in das Labyrinth. Die ersten sechs Stunden hatte ich in meinem Klassenraum, das konnte ich meinem Stundenplan ablesen. Aber obwohl ich hier bereits zur Schule gegangen war, wusste ich nicht mehr, wo sich der befand, geschweige denn, ob meine Klasse immer noch denselben Klassenraum hatte wie damals.
»Colin, du kannst mir nicht zufälligerweise sagen, wo mein Klassenraum ist?«, fragte ich.
»Ich fürchte, so gut kenne ich mich noch nicht aus«, sagte Colin zu meiner Enttäuschung. »Eine Nacht hat leider nicht gereicht, um alle Geheimnisse dieser Schule zu erkunden. Aber ich kann die gerne beim Suchen helfen! Die Schüler scheinen zwar schon alle im Unterricht zu sein, aber warum fragst du nicht die Unlebendigen?«
»Ich bezweifle, dass irgendwelche fremden Geister wissen, wo sich mein Klassenraum befindet.«
»So lange wie die sich hier schon aufhalten, kennen sie sich garantiert gut aus.« Colin wandte sich an einen kleinen Jungen, der schätzungsweise sechs oder sieben Jahre alt war. »Hey du, weißt du, wo die Klassenzimmer der elften Klasse sind?«
Der Junge schaute ihn an, als hätte er einen Geist gesehen, was streng genommen den Tatsachen entsprach. Er räusperte sich, dann schüttelte er den Kopf und huschte davon.
»Siehst du, die wissen auch nicht mehr als du«, sagte ich. Jetzt, wo wir bereits einige Meter hinter uns hatten, fiel mir auf, dass erstaunlich wenige Geister in unserem Alter unterwegs waren. Die meisten schienen im Grundschulalter gestorben zu sein.
»Anfängerpech«, sagte Colin.
»Den Begriff gi–«, fing ich an zu erklären, da ertönte bereits die Schulglocke. Die erste Schulstunde hatte begonnen.
Colin sprach den nächsten Schüler an, diesmal einen in unserem Alter.
»Weißt du, wo die elften Klassen ihren Unterricht haben?«, fragte er. »Meine Freundin ist neu hier und weiß nicht, wo ihr Klassenraum ist.«
Gerne hätte ich klargestellt, dass ich nicht seine Freundin war, doch dafür war gerade keine Zeit. Schließlich gab es eine kleine Chance, dass der Lehrer noch nicht mit dem Unterricht begonnen hatte oder dass er selbst zu spät kommen würde.
»Ja, klar«, sagte der Geist. »Der schnellste Weg ist hier geradeaus, dann den zweiten Gang links und dann ...«
Weiter kam ich nicht mehr mit. Wie man in diesem Schloss den Überblick behalten sollte, war mir ein Rätsel.
Colin stupste mich an. »Komm mit.«
Ich folgte ihm und hoffte darauf, dass er sich die ganzen Anweisungen gemerkt hatte. Nach nur zwei Kurven stießen wir auf eine Tür, die hinaus auf einen Innenhof führte. Schnellen Schrittes folgte ich Colin an mehreren symmetrischen, sorgfältig angelegten Gärten vorbei.
Dann gingen wir wieder hinein in das Schloss, durch ein Treppenhaus in den dritten Schloss und schließlich blieben wir beide schwer atmend vor der drittletzten Tür stehen.
»Hier ist es«, keuchte Colin.
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Die Geister von Schloss Elinar
FantasíaWenn sie wach ist, sieht sie Geister. Nachts, in ihren Träumen, sieht sie ihre Cousine Rosa, wie sie aus dem höchsten Turm ihres Internats in den Tod fällt. Damals hatte Avena sich geschworen, nie wieder zum Schloss Elinar zurückzukehren, doch nun s...