Kapitel 1

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~I know everything happens for a reason, but sometimes I wish I knew what the reason was~

***

Leise trete ich durch die Türschwelle in Ryoheis Zimmer. Wie immer ist er total in eins seiner Videospiele vertieft. Er bemerkt mich nicht mal, als ich mich räuspere, damit er auf mich aufmerksam wird. 
,,Was für ein beschissener Bruder", beschwert sich mein zweiter Bruder, der nun auch ins Zimmer tritt. Ich rolle mit den Augen. "Was für eine beschissene Familie" füge ich in Gedanken hinzu. 
,,Mist!", flucht Ryohei, während sich der Bildschirm rot färbt und in ihm ein schwarzes You are Dead auftaucht.
,,Du warst wieder nicht beim Vorstellungsgespräch. Ich hab diese Leute angebettelt, tu es wenigstens für mich", spricht der Junge neben mir nun an. Ich werfe einen Blick zu dem älteren der beiden, auch wen man ganz Leicht verwechseln kann, wer wirklich der ältere von den beiden ist. Dieser sitzt nun im Schneidersitz auf seinem Stuhl. Sein Blick ist desinteressiert nach vorne gerichtet. Ich weiß ganz genau, was er gleich sagen wird.
,,Habe ich dich etwa darum gebeten?", fragt dieser nur.
,,Papa hat auch gesagt, das war das letzte mal. Er meinte, in Zukunft kannst du dir selbst einen Job suchen." 
,,Ich hab gesagt, das ich euch nie um Hilfe gebeten habe", sagt Ryohei jetzt etwas genervt.
,,Aber die hast du nötig. Du bist ein echter Parasit", antwortet Hajime nun. Ich stoße ihm meinen Ellenbogen in die Seite und schaue ihn böse an. Er hat zwar irgendwie recht, aber es laut auszusprechen und das gerade jetzt ist vielleicht nicht die beste Lösung. Trotzdem hebt er nur leicht verteidigend die Hände. Einen unschuldigen Blick im Gesicht. 
,,Okay, dann geh ich halt", sagt mein Bruder plötzlich, während er aufspringt, seinen Fernseher ausschaltet und aus der Tür geht. Aber nicht ohne noch einen dämlichen Kommentar von seinem Bruder abzubekommen.
,,Könnte man nur die Realität resetten. Als Mama noch am Leben war, war es echt besser."
Nun haue ich ihm härter gegen seinen Arm, während ich sicherstelle, dass nur noch er mich hört. Er verzieht leicht sein Gesicht. 
,,Das hätte echt nicht sein müssen", gebe ich auch endlich meinen Senf dazu. 
,,Ist doch so", antwortet er nur und verlässt dann auch den Raum. Jetzt bin ich alleine. Völlige Stille füllt den Raum. Ich lehne mich an den Türrahmen und starre aus dem Fenster. Ich beobachte, wie Ryohei das Grundstück verlässt, sich umschaut und dann losläuft. Es hat nicht mal drei Sekunden gedauert. Schon hat er sein Handy in der Hand. ,,Typisch Ryohei", murmele ich und mache mich dann auf den Weg in mein eigenes Zimmer. 

Ich: Ryohei, wo bist du?
Diese Nachricht habe ich meinem Bruder, kurz nachdem er losgegangen ist, geschrieben. Jetzt ist es schon zehn Minuten später. Zwei blaue Hacken, aber keine Antwort. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht wie abgemacht zum Vorstellungsgespräch gegangen ist. So tickt er einfach nicht. Höchstwahrscheinlich hat er sich mit Karube und Chota irgendwo hin verzogen. Das wird auch der Grund sein, weshalb er mich einfach ignoriert. Aber ich muss einfach sichergehen, dass es ihm gut geht. Er ist mein großer Bruder und somit der einzige, den ich noch habe, seitdem unsere Mutter gestorben ist. Mit dem Rest der Familie habe ich mich noch nie wirklich verstanden. Höfliche Gespräche sind da das Mindeste, was ich zustande bringe. Mit denen kann man einfach nicht ehrlich reden. Mit Hajime ist es einfach- anders als mit Ryohei. Irgendwie habe ich das Gefühl, er erwartet, dass ich wie er werde. Ein perfektes Kind. Das bin ich aber einfach nicht. Er und mein Vater hoffen wohl oder übel immer noch auf den Tag, an dem sich in meinem Kopf ein Schalter umlegt und ich bemerke, wie ich zu sein habe...
 Früher war Ryohei mein sicherer Hafen. Heute ist er nur noch so was ähnliches. Die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen und die vielen Streitereien, die wir täglich pflegen, helfen nicht gerade dazu bei, unsere Beziehung wieder gerade zu rücken. Aber anscheinend hat er seit dem Tod unserer Mutter auch kein Interesse mehr daran. Es ist krass, wie schnell sich Dinge ändern. Mein Handy blinkt auf.
Ryohei: Bin mit Karube und Chota irgendwo in Shibuya was trinken. Mach dir keine Sorgen.

Ich lache auf. So weit war ich auch schon. Die Frage ist jetzt eher, wo genau er ist. ,,Klar, ich soll mir keine Sorgen machen", flüstere ich.
Ich: Schick mir deinen Standort, wir müssen reden
Ich stehe von meinem Bett auf und ziehe mir anstatt meiner Jogginghose eine kurze Hose an. Es ist heute meiner Meinung nach doch recht warm geworden. Zu warm, um lange Sachen zu tragen. Dann nehme ich nur noch mein Handy, bevor ich unser Haus verlasse und mich auf den Weg nach Shibuya mache. Ryohei hat mir immer noch nicht seinen Standort geschickt. Gelesen hat er die Nachricht auch nicht.
,,Verdammter Mist", fluche ich, während ich mein Handy wieder in meine Hosentasche gleiten lasse. Ohne Standort werde ich ihn niemals finden, so viel steht fest. Es gibt zwar nicht Massen an Kneipen hier, aber alle, die es gibt, will ich sicher nicht nach meinem Bruder absuchen. An der Shibuya Kreuzung angekommen, drehe ich mich einmal im Kreis, als mein Blick bei einem Coffeeshop hängen bleibt. Dann muss ich halt warten, bis Ryohei mir schreibt. Dabei kann ich mir ja einen Kaffee gönnen. 

Ich betrete den kleinen Coffeeshop. Sofort fällt mein Blick auf die Karte, auf der die verschiedenen Angebote aufgelistet sind. Nachdem ich mir etwas ausgesucht habe, stelle mich an die Theke und warte darauf, dass die Bedienung mich bemerkt. Meine Bestellung beinhaltet einen Kaffee mit Karamell und dazu ein belegtes Brötchen. Ich bezahle es. Dank Ryohei bin ich nicht zum Essen gekommen. Mit den beiden Sachen setze ich mich an einen der Holztische. Von meinem Platzt aus habe ich eine gute Sicht auf die Kreuzung. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass ich Ryohei entdecke, falls er dort ist, aber eine Chance besteht. Ich fahre mir durch die Haare, während ich mein Handy erneut hervorhole.
Ich: Ryohei, wo bist du? Ich mache mir langsam echt Sorgen

Die Zeit ist wie im Flug vergangen. Der Himmel hat sich immer mehr verdunkelt, während die Uhr ununterbrochen über mir getickt hat. Ryohei hat mir immer noch nicht geschrieben. Dafür hat mein anderer Bruder mich gefragt, wo ich bleibe. Seufzend stehe ich auf und schaue mich nach einer Toilette um. Als ich die leicht versteckte Tür endlich gefunden habe, trete ich ans Waschbecken. Ich betrachte mich im Spiegel. Meine braunen Haare hängen leicht unordentlich herunter. Mit dem Haargummi an meinem Handgelenk binde ich sie mir zu einem Zopf, bevor ich mir etwas Wasser ins Gesicht schütte. Ich sehe schrecklich aus. Man kann mir die Besorgnis quasi ansehen.

Mit einem lauten Knacken schaltet sich das Licht des Zimmers aus. Ich schaue mich erschrocken um. In dem stockdunklen Badezimmer kann ich fast nichts mehr erkennen. Nur noch gedämpftes Licht drängt durch die schmalen Fenster oben in den Raum. Verwundert taste ich mich zur Tür. Vorsichtig öffne ich diese. Aber auch im anderen Raum wird es nicht heller. ,,Das ist wohl ein Stromausfall", flüstere ich. Ich trete aus dem Gang, in dem die Toiletten zu finden waren, wieder in den richtigen Teil des Cafés. Aber es ist niemand mehr da. Keine Menschenseele. Noch verwirrter als zuvor trete ich auf die Theke zu. 
,,Hallo!", rufe ich und schaue mich dabei um. ,,Ist hier jemand?"
Aber ich bekomme keine Antwort. Von wem auch, anscheinend bin ich alleine. Vielleicht eine Evakuierung? Brennt es irgendwo? Hektisch blicke ich mich erneut um. Dieses Mal versuche ich ein Anzeichen einer Evakuierung zu finden. Aber nichts ist zu sehen.
Egal, schnell mache ich mich auf den Weg, um das Gebäude zu verlassen. Ich sollte sowieso langsam nach Hause gehen. Vielleicht ist Ryohei ja auch schon da.
Ich trete ins Freie. Der kalte Wind begrüßt mich und lässt mich leicht zittern. Jetzt bereue ich es, eine kurze Hose angezogen zu haben. Der etwas längere Weg nach Hause wird eine Qual.
Erst jetzt fällt es mir auf. Oder eher nichts fällt mir auf. Weil niemand da ist. Die Straßen sind wie leer gefegt. Alle Autos stehen auf einer Stelle, ohne einen Fahrer. Überall fliegt der Müll rum. Zwar tut er das immer, aber zwischen der Menschenmasse fällt das sonst so gar nicht auf.

Die Frage ist jetzt aber: Wo sind alle hin?

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A/N:

Ein etwas längeres Kapitel für den Start, die anderen werden dann wahrscheinlich wieder um die 800 Wörter. 
Gibt es schon Beschwerden, die ich beachten solle?
Naja, ich hoffe euch hat das erste Kapitel und somit der Einstieg in Yunas Geschichte gefallen :)

Einen schönen Tag an alle die das hier lesen <33

Sick LiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt