Kapitel 1

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Kurze Anmerkung vorab: Normal geschriebene Wörtliche Rede ist koreanisch, kursiv gedruckte Wörtliche Rede ist deutsch.

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„Moon, schau mal. Wie sieht das aus?"

Ich drehe mich um und sehe meine beste Freundin Minji vor mir, die sich ein bauchfreies, blaues Top vorhält.

„Sieht gut aus. Dazu der Rock mit den Rüschchen und deine weißen Sandalen und niemand könnte dich mehr übersehen, Minie."

Bei meinen Worten fängt sie an, breit zu grinsen und wirbelt einmal um ihre eigene Achse.

Dann flitzt sie schon zum nächsten Kleiderständer, diesmal mit langen, weiten Hosen in allen möglichen Grüntönen.

„Und was hältst du von dieser Hose? Die ist vooooll schön, oder?"

Ich lächle während ich ihr durch das Geschäft folge, immer darauf achtend, dass ich ihr beim Schmökern nicht im Weg stehe. Nach einiger Zeit klingelt mein Handy und der Name meines Vaters blinkt mir entgegen.

„Minie, ich muss kurz telefonieren, lauf nicht zu weit weg." Ich hoffe, dass sie es gehört hat, denn nun hat ein weißes Minikleid ihre volle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Leise seufzend nehme ich den Anruf an.

„Hey Dad. Was gibst?"

„Hallo mein kleiner Mond, ich muss nochmal in die Firma, weshalb unser gemeinsames Abendessen leider wieder ausfallen muss. Es tut mir wirklich Leid." Das ist jetzt das dritte Mal diese Woche. Manchmal wünschte ich mir wirklich, Dad hätte einen normal Job und wäre nicht steinreich.

„Oh... Schon gut, Dad. Ich weiß, wie stressig es grad bei dir ist."

„Danke Maus. Mach dir einen schönen Abend, ich hab dir Geld für ein Abendessen mit Minji auf die Küchentheke gelegt."

„Danke Dad, wir werden es nutzen. Bis morgen."

Damit endet unser Gespräch und ich wende meine Aufmerksamkeit mit einem fast unhörbaren Seufzen wieder meiner Freundin zu, die bereits ein ganzes Stück weiter gelaufen ist. Als ich bei ihr ankomme und ihr erzähle, dass wir zum Abendessen ausgehen werden, freut sie sich wie ein kleines Kind an Weihnachten und hüpft aufgeregt in der Gegend herum.

Wir bezahlen die Klamotten, die wir mitnehmen wollen, verlassen den Laden, der mitten in der Gotomall Underground Shopping Mall liegt und machen uns auf den Weg aus dem Einkaufszentrum hinaus.

Wieder an der Erdoberfläche angekommen, schlagen wir die Richtung zur nächsten U-Bahn Haltestelle ein, um zu mir nach Hause zu fahren, uns das Geld meines Vaters zu schnappen und in eines der fancy Restaurants in der Nähe meines Zuhauses zu gehen.

Minji läuft auf der Fahrbahnseite des Bürgersteigs und plaudert mich über das nächste BTS-Konzert voll. Mit einem Mal knickt sie um und stolpert auf die Straße.

Ab diesem Zeitpunkt legt sich der altbekannte rote Schleier über meine Welt und alles verschwimmt leicht vor meinen Augen.

Zwar kommt uns das dunkelblaue Auto entgegen, doch ich nehme es erst richtig wahr, als es gegen Minji fährt und daraufhin kurz ins Schleudern kommt. Mein schriller Schrei nach meiner Freundin lässt meine Ohren aufs neue klingeln.

Ich kann meine vor Entsetzen aufgerissenen Augen nicht von meiner auf der Straße liegenden Freundin abwenden, mit mehreren verdrehten Körperteilen und überall ist Blut. Viel Blut. Zu viel Blut.

Mit rasendem Herzen schlage ich meine Augen auf.

Das nächste Geräusch, das ich höre ist ein Martinshorn, und erst jetzt werde ich richtig wach. Schweiß überströmt setze ich mich in dem schmalen Bett in der Rettungswache auf, in der ich heute Nachtschicht habe. Kurz muss ich auf mein Leben klar kommen und das eben Geträumte einordnen.

Schon wieder hatte ich denselben Albtraum, wie meine beste Freundin Minji vor meinen Augen überfahren wurde. Und leider muss ich meinem Gehirn ein weiteres Mal klar machen, dass dieses Ereignis die grausame Realität ist, in der ich lebe.

Die Realität, wegen der ich meine Heimat Süd Korea verlassen und nach Deutschland gezogen bin, um möglichst viel Abstand zu den Ereignissen meiner Vergangenheit zu haben.

Im nächsten Augenblick fliegt die Tür zu dem kleinen Raum auf, in dem ich bin und meine Arbeitskollegin und beste Freundin Anneline steht im Türrahmen.

Hattest du wieder den Albtraum?" Ihre besorgte Frage dringt nur langsam zu mir durch aber schließlich nicke ich leicht. Tränen bilden sich in meinen Augen und Anneline nimmt mich sanft in den Arm. Sie streichelt meinen Rücken und wischt mir die immer neu nach rollenden Tränen von den Wangen, während sie mir beruhigende Worte zu murmelt. Leider schiebt sich kurze Zeit später ein Schatten in den Türrahmen und ich vernehme die raue Stimme von Alies, den ich ebenso wie Anneline aus dem Schlaf gerissen hatte.

Alter, geh zur Therapie und mach, dass das aufhört. Ich hör dich schon zuhause manchmal schreien, obwohl du am anderen Ende der Stadt wohnst." Sein anklagender Blick spricht Bände und ich fühle mich sofort noch schlechter. Fast jedes Mal, wenn ich und Anneline Nachtschicht auf der Wache haben, habe ich diesen einen Albtraum. Aber nicht nur hier, auch zu Hause in meiner kleinen Wohnung im 3. Stock eines riesigen Mietshauses.

Boa ey! Jetzt hack nicht schon wieder darauf rum! Sie geht seit dem Vorfall zur Therapie, das weißt du! Aber du weißt auch selber, wie fucking traumatisch es ist, zu sehen, wie eine andere Person von einem Auto überfahren wird! Und jetz verpiesel dich." Annelines wütende Stimme dringt durch meine Gedanken. Ich nehme ihre Hand in meine, um sie zu beruhigen. Immer wenn es um mich geht, wird sie sehr beschützerisch.

Was daran liegen könnte, dass sie bereits seit dem ersten Mal, als wir uns in die Augen sahen, in mich verliebt ist. Ich teile ihre Gefühle zwar nicht, aber wir haben entschieden, dass wir trotzdem beste Freundinnen bleiben wollen und es funktioniert gut.

Sie wirft Alies noch einen letzten mörderischen Blick zu und dreht sich dann wieder zu mir.

Hör nicht auf ihn. Der ist ein egoistisches Arschloch. Ich hab's dir schon 1000 mal gesagt, aber ich sag's dir nochmal. Ich bin froh über jede Nachtschicht, die wir haben. Dann bist du wenigstens nicht alleine in deiner Wohnung und bekommst Panikattacken, weil dich die Vergangenheit einholt."

Ich lasse meinen Kopf gegen ihre Schulter fallen: „Womit hab ich dich nur verdient?" Ihr leises Lachen erschüttert ihren gesamten Körper.

Mit jeder Faser deiner Existenz, Häschen." Dann steht sie auf und ich folge ihr tapsend in die kleine Kochzeile.

Kaffee?" Ich erschrecke mich, als mein Chef vor mir steht, eine Tasse schwarzem Kaffee in der Hand.

Ja, danke." Vorsichtig an dem dunklen Gebräu nippend folge ich dem Gespräch zwischen Anneline und meinem Chef, die sich über die Kupplung am 3. Rettungswagen beschweren. „Und der Rückwärtsgang funktioniert auch nur in einem Drittel der Fälle und dann auch nur wenn er Bock hat." Das ist zwar etwas übertrieben, aber im Großen und Ganzen muss ich meinem Chef zustimmen.

Die Rettungswache, in der ich als Notfallsanitäterin arbeite, sollte eigentlich schon seit zwei Jahren geschlossen werden, aber irgendwie schafft es der Chef immer wieder, die Schließung aufzuschieben, auch wenn wir inzwischen keine besonders großen und vor allem ausreichenden Gelder mehr von der Hauptwache zur Verfügung gestellt bekommen. Dadurch kommt es momentan ab und an zu diversen Ausfällen in der Elektronik, zum Glück bisher aber nur bei den Rettungswagen, die seit Ewigkeiten dringend in die Wartung müssten.

Da ertönt die Alarmklingel und reißt mich aus meinen Gedanken. „Und auf in einen neuen Einsatz. Mal sehen, worum es diesmal geht."

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Plötzlich Geschwister (SKZ FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt