Kapitel 9

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Der Morgen des 04.06.2022 beginnt ziemlich schlecht. Durch meinen altbekannten Albtraum werde ich bereits um kurz nach 4 Uhr aus dem Schlaf gerissen und danach kann ich trotz all meiner Bemühungen nicht mehr einschlafen.

Gegen 6:30 Uhr entscheide ich mich dann dafür aufzustehen und ins Bad neben meinem Zimmer zu schlurfen, um mich für den Tag fertig zu machen. Ein Tag, den ich vermutlich lange nicht vergessen werde. Es wird das erste Mal seit der Beerdigung von Minie sein, dass ich zu ihrem Totenbett auf dem Friedhof gehe.

Im Badezimmer angekommen, beginne ich damit, kurz zu duschen. Während ich mich abtrockne und danach anziehe, betrachte ich mich in dem großen Spiegel neben dem Waschbecken. Meine noch ungekämmten und damit etwas zerzausten orange-roten Haare fallen mir leicht gewellt über den Rücken bis zur Taille.

Zu Beginn meiner Schulzeit wurden sie immer bestaunt, bis man herausfand, dass sie nicht gefärbt sind, sondern ich meine Naturhaarfarbe von meiner deutschen Mutter habe. Danach wurde ich immer für meine Haare ausgelacht und gehänselt, bis Minie in mein Leben trat. Sie nahm mein Äußeres einfach an und schätzte meinen Charakter, ebenso wie ich ihre Art sehr mochte. Es war Freundschaft auf den ersten Blick und ich bin ihren Eltern nach so vielen Jahren immer noch sehr dankbar, dass Minji in der dritten Klasse mitten im Schuljahr auf meine Schule gewechselt ist, weil ihre Familie aus Kentucky in den USA nach Seoul gezogen ist.

Mein Blick richtet sich von meinen Haaren auf mein Gesicht und wieder einmal bestaune ich meine Haselnussfarbenen Augen, die ich von meinem Vater geerbt habe. Sie sind wohlgemerkt das einzige, das ich von meinem Vater habe, denn auch meine recht schlanke Statur und meine Gesichtsform habe ich von Mutter. Auch meine nur leichten Kurven an Brust und Po sind eine Erbschaft aus ihrer Blutlinie. Nur meine Körpergröße habe ich irgendwie nicht geerbt, denn meine Eltern sind beide um die 1,80m groß und ich bin nur 1,64m. Und auch ich bin inzwischen erwachsen. Aber ich mag meine Größe. Nicht zu klein und nicht zu groß.

Völlig in Gedanken vertieft kämme ich mir die Haare und spritze mir noch etwas Wasser ins Gesicht, bevor ich das Bad verlasse und mich gemächlich ins Erdgeschoss begebe, um mir ein Müsli zum Frühstück reinzuziehen.

In der Küche treffe ich auf meinen Vater der, seinen Morgenkaffee trinkend, auf seinem Tablett Zeitung liest. Als ich mir eine Schüssel aus dem Schrank nehme bemerke ich seinen prüfenden Blick, der mich zu durchbohren scheint. Mich zu ihm drehend frage ich nach, was los ist, doch er weicht meiner Frage aus, indem er sich scheinbar wieder in seine Zeitung vertieft. Doch ich merke immer wieder seinen Blick in meinem Rücken, während ich mir mein Müsli mische.

Als er mir mit den Augen sogar bis zur Besteckschublade am anderen Ende der Theke folgt, drehe ich mich gereizt zu ihm um: „Was ist denn?! Du beobachtest mich die ganze Zeit und trotzdem ignorierst du meine Frage! Was hab ich jetzt schon wieder angestellt?!"

„Moon, wir machen einen Zwei-Tage-Ausflug zum Strand in Incheon. Bong muss übers Wochenende zu einer Betriebsversammlung und die Jungs brauchen kurz ein bisschen Abstand. Sie sind es nicht gewöhnt, eine Schwester zu haben und dann kommen noch deine Panikattacken und Albträume dazu; die brauchen einfach eine kurze Pause. Pack bitte deine Tasche, wir fahren in etwa einer Stunde los." Mit diesen schroffen Worten steht er auf und geht zur Treppe; mich lässt er mit offenem Mund stehen.

Einige Male blinzelnd versuche ich zu verarbeiten, dass er seiner erwachsenen Tochter gerade befohlen hat, ihre Tasche zu packen um mit ihm in Kurzurlaub zu fahren. Das macht meinen Tag auch nicht besser, denke ich.

Mein nächster Gedankengang geht zu meinen ursprünglichen Plänen. Ich wollte doch Minjis Grab besuchen gehen, aber wenn wir schon in einer Stunde losfahren, wird das nichts mehr. Und ich habe nicht vor, mich mit meinem Dad anzulegen, denn ich schätze unser sonst so entspanntes Verhältnis.

Also esse ich betrübt mein Müsli und begebe mich, nachdem das Geschirr in der Spülmaschine verstaut ist, in mein Zimmer, um meine Sachen zu packen.

Nachdem ich meine kleine Reisetasche aus Kindertagen vollgestopft habe, verlasse ich mein Zimmer auf dem Weg zur Garderobe. Beim Packen war meine Laune umgeschlagen und ich musste mir Kopfhörer mit lauter Musik aufsetzen, um nicht irgendwas zu zerstören.

Als ich das Treppenhaus verlasse und an unserer offenen Küche vorbei komme, sehe ich Hyunjin und Chan, die an der Theke stehen und sich unterhalten. Meine Schritte lassen die beiden aufsehen, woraufhin Chan die Hand hebt und Hyunjin mir ein durch die Kopfhörer gedämpftes „Guten Morgen" zuruft. Doch ich bin nicht in der Stimmung, mich mit den beiden zu unterhalten, also nicke ich nur knapp und drehe mich in Richtung Flur. Hinter mir höre ich nur die verwirrte Frage, was los ist, doch ich ignoriere die beiden.

Etwas leid tun sie mir schon, dass ich so schlecht drauf bin und es meine Brüder spüren lasse, doch dann erinnere ich mich wieder an das Gespräch vom Vorabend zwischen Dad und meinen Brüdern und mein schlechtes Gewissen verfliegt wieder. Wenn sie hinter meinem Rücken über etwas sprechen, das mich betrifft, dann sollen sie auch merken, dass ich das nicht mag.

Kurz nach mir betritt mein Vater mit einer Tasche den Flur und begibt sich zur Garderobe. Auch ihm schenke ich nicht viel Beachtung, lieber lausche ich noch etwas meiner Musik. Irgendwann frage ich aber doch nach, welches Auto wir nehmen, denn ich will den fragenden Blicken meiner Brüder entkommen, die mich immer noch ansehen.

„Wir fahren mit deinem Wagen, mein Audi musste gestern Nachmittag in die Werkstatt, da war irgendwas mit der Gangschaltung." Schon bevor er seinen Satz zu Ende bringen kann, schnappe ich mir den Autoschlüssel zu meinem blauen Wagen und verlasse das Haus. Ich lasse mich auf den Fahrersitz fallen, werfe meine Tasche auf die Rückbank und nehme schweren Herzens die Kopfhörer aus den Ohren. Dann doch die kurze Ruhe genießend sehe ich mich um, bis mein Blick seinen Weg hinauf zum Himmel findet. Die Sonne blitzt ab und zu zwischen kleinen weißen Schäfchenwolken hervor und taucht das Haus vor mir in ein sanftes Licht.

Ich mag die Farbe meines Zuhauses, kein strahlendes Weiß und auch kein richtiges Gelb, ich würde es als cremefarben bezeichnen, auch wenn der Hauswand-Farben-Katalog es als „sanftes Hellbraun" betitelt hatte. Durch die großen Fenster zum Flur hinein kann ich meinen Vater und meine zukünftigen Brüder sehen.

Die hellgrau gestrichene Haustür öffnet sich und mein Vater tritt heraus, an der Fensterscheibe vor mir sehe ich Yongbok und Chan, die ihm einige Worte zum Abschied sagen und mir zaghaft zuwinken. Kurz erhebe auch ich die Hand zum Gruß, doch dann konzentriere ich mich darauf den Motor anzulassen, um meinen Vater zu ermutigen, nicht so zu schleichen.

Als er sich neben mich setzt und gerade die Tür schließt, lege ich bereits den Rückwärtsgang ein und und parke mein Autochen langsam rückwärts aus, die beiden Jungs hinter der Fensterscheibe gekonnt ignorierend.

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Plötzlich Geschwister (SKZ FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt