Kapitel 2 - Verspätet?

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Geschlagene 30 Minuten später fahren wir auf den Parkplatz des Wohnblocks, in dem meine beste Freundin wohnt. Als ich aus dem Auto steige, kann ich nicht verhindern, dass ich die Tür etwas fester zuschlage als notwendig. Ich bin endlos genervt. Eigentlich wären wir super in der Zeit gewesen, wenn mein Freund nicht darauf bestanden hätte, noch kurz vor knapp Zigaretten zu holen und uns damit einen Umweg von 20 Minuten einzubrocken.
„Ist doch egal", hatte er gesagt, „bei solchen Veranstaltungen ist doch eh niemand pünktlich."
Fehlanzeige. Als Nina uns die Tür aufmacht, höre ich aus ihrer Wohnung schon lautes Gelächter und Gesprächsfetzen, die mir sagen, dass mit großer Wahrscheinlichkeit schon alle da sind - außer uns.
Nina begrüßt mich mit einem Strahlen. Sie ist sichtlich happy, mich zu sehen, und dennoch kann ich in ihren Augen erkennen, dass sie jetzt schon genervt wegen Mario ist. Ich kann es ihr nicht verübeln - mir geht es ja genauso, aber jetzt sind wir hier und müssen das beste daraus machen. Von ihm lasse ich mir den Abend mit meinen Freunden bestimmt nicht versauen.
Nina und ich umarmen uns zur Begrüßung und auch Mario zieht Nina in eine flüchtige Umarmung, weil sie eine gute Seele ist, die zu jedem freundlich und höflich ist, auch wenn sie die Person insgeheim absolut nicht ausstehen kann.

Nachdem wir unsere Jacken abgelegt und die Schuhe ausgezogen haben, betreten wir das Wohnzimmer. "Hi, Leute!", sage ich etwas kleinlaut. Sofort drehen sich fünf Köpfe zu mir um.
„Da ist sie ja endlich!" Ein mir all zu bekanntes Gesicht strahlt mich an. Sein Anblick lässt mich schlagartig die trüben Gedanken von vorhin vergessen und ich kann nicht anders, als ebenfalls zu strahlen.
Felix stellt die Bierflasche, aus der er gerade eben noch getrunken hat, vor sich auf dem Wohnzimmertisch ab und steht auf, um mich zu begrüßen. Seine Umarmung wirft mich beinahe um. Ich lache spitz auf. „Hey, ganz ruhig. Ich freue mich auch, dich zu sehen!", sage ich atemlos, während ich mich von ihm löse. Wir grinsen uns an, dann wendet Felix sich meinem Freund zu.
„Hey Bro, alles klar?" Die beiden schlagen zur Begrüßung ein und ich gebe mir größte Mühe, nicht die Augen zu verdrehen. Niemand kann so gut Sympathie vortäuschen wie Felix. „Bro" - das klingt so, als wären die beiden schon jahrelang befreundet und als würden sie sich nicht nur zweimal im Jahr sehen, wenn Mario sich von mir dazu breitschlagen lassen hat, mich auf ein Treffen mit meiner Clique zu begleiten.
So, als würde mein Freund ihm nicht jedes Mal einen giftigen Blick zuwerfen, wenn Felix mich ein bisschen zu herzlich in den Arm nimmt oder wir gemeinsam ein bisschen zu laut über einen Witz lachen, den einer von uns beiden gemacht hat. Aber es ist einfach, wie es ist. Felix ist mein bester Freund seit über 10 Jahren. Er ist der einzige Mensch, dem ich noch mehr vertraue als Nina. Daran wird nichts und niemand etwas ändern - schon gar nicht die Eifersuchtsattacken von Mario, die völlig unbegründet sind und jedes Mal völlig aus dem Nichts kommen.

Nach und nach begrüßen wir auch den Rest der Truppe. Ninas Schwester Marie, deren Freund Sascha, daneben Vanessa und Simon - sie sind alle gekommen. Glücklich lasse ich mich zwischen Mario und Felix nieder, als Nina ungefragt einen Aperol Spritz vor mir abstellt. Überrascht schaue ich auf und grinse sie an „Willst du mich etwa abfüllen?"
Sie lacht und schüttelt den Kopf. „Keineswegs, aber wir müssen doch darauf anstoßen, dass wir uns zum ersten Mal seit einem halben Jahr endlich alle wiedersehen. Cheers!"
Wir heben alle unsere Gläser - oder Flaschen - in die Luft und lassen sie gegeneinander klirren. Ich werfe Felix einen schelmischen Blick zu und verdrehe spielerisch die Augen. „Ich glaube, wir wissen alle, an wem es liegt, dass wir uns nicht früher getroffen haben!" Die anderen lachen und Felix stößt mir mit dem Ellbogen in die Rippen. Dann zuckt er ein wenig selbstgefällig mit den Schultern und ich wechsle einen schnellen Blick mit Mario. Er grinst mich an, aber es hat absolut nichts Amüsiertes. Ich kann mir in etwa vorstellen, was er gerade denkt. Mit dem Poser bist du befreundet? Schließlich wäre es nicht das erste Mal, dass ich solche Sätze aus seinem Mund hören würde, doch natürlich sagt er nichts.

Eine Weile sitzen wir in der großen Gruppe zusammen, trinken Aperol, Wein und Bier und quatschen dabei über alles mögliche, bis die Gespräche sich vermischen und der Geräuschpegel zu laut wird. Nach und nach steht vereinzelt jemand auf und wir verteilen uns in unterschiedlichen Ecken des Raumes, um uns besser unterhalten zu können.
Zufrieden stelle ich fest, dass Mario zusammen mit Simon in einer Ecke steht. In der einen Hand hält er eine Bierflasche, mit der anderen gestikuliert er, während die beiden sich angeregt unterhalten. Wahrscheinlich über Fußball - wenn es ein Thema gibt, über das mein Freund stundenlang reden kann, dann ist es Fußball, womit er in Simon absolut den richtigen Ansprechpartner gefunden hat.
Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Ich gehe in die Küche und bin gerade im Begriff, mein Getränk nachzufüllen, als mir plötzlich jemand von hinten die Hand auf meine Schulter legt.

„Na Chiara, was geht?" Ich drehe mich um und schaue in Felix' lächelndes Gesicht. Amüsiert pruste ich los. „Wie, was geht? Du hast den ganzen Abend neben mir gesessen!" Er hebt eine Augenbraue an. „Schon, aber wir haben uns bis jetzt nicht einmal in Ruhe unterhalten." Er nimmt mir das Glas aus der Hand, stellt es auf der Küchentheke neben uns ab und greift nach meinem Handgelenk. „Komm mit."
Verdutzt lache ich auf, leiste seinem Befehl aber folge. Felix zieht mich in den Flur und von dort aus in Ninas kleines Gästebadezimmer. Er schließt die Tür hinter uns und lehnt sich mit dem Rücken dagegen. Ich lache hell auf.
„Bist du irre? Was sollen die anderen denn jetzt denken?"
Felix verschränkt die Arme vor der Brust und zieht die Augenbrauen hoch. „Das ist mir vollkommen egal. Ich will wissen, warum ihr heute zu spät wart."
Sofort schlägt meine Stimmung um. Ich starre ihn ungläubig an. „Was meinst du damit? Wir haben uns halt verspätet, was ist schon dabei? Das passiert jedem mal."
„Ja, aber dir nicht." Felix löst seine Arme aus der Verschränkung und sieht mich noch fokussierter an, als würde er versuchen, in meinen Augen den Grund für meine Lüge erkennen.
„Normalerweise bist du diejenige, die schon eine Stunde vor Beginn da ist und jeden an der Tür begrüßt wie ein Hundewelpe, der am liebsten an jedem hochspringen würde. Seit Wochen schreibst du jeden Tag in unsere Gruppe, wie sehr du dich auf das Treffen freust und dann kommst du 20 Minuten zu spät und ziehst noch dazu ein Gesicht, als wäre jemand gestorben?"
Fassungslos starre ich ihn an, dann senke ich meinen Blick. Verdammt. Er kennt mich eindeutig zu gut. Ergeben weiche ich seinem Blick aus und seufze.

„Mario wollte nicht mitkommen, okay? Er hat mich zuhause schon dazu überreden wollen, daheim zu bleiben und ich musste ihm versprechen, die nächsten Wochenenden nur für ihn zu reservieren. Damit hat er sich dann zufrieden gegeben, aber unterwegs ist ihm dann eingefallen, dass er unbedingt noch Zigaretten holen muss. Dabei hat er ewig getrödelt und ist dazu noch im Schneckentempo gefahren. Ich hab mich nicht getraut, was zu sagen." Ich senke meinen Blick und schaue Felix nicht in die Augen, weil ich genau weiß, was er gleich dazu sagen wird. Wieso lässt du dir sowas gefallen?! Trenn dich endlich von dem Arsch. Er bringt nur Ärger.
Ein paar Sekunden lang ist es still im Badezimmer, dann höre ich ihn seufzen. „Ach, Chiara." Er breitet seine Arme aus und ich lasse mich in eine tröstende Umarmung ziehen.
„Ich würde gerne so viel dazu sagen, aber du kennst meine Meinung ja."
Nachdem er mich einige Sekunden gehalten hat, löst er sich von mir und lächelt mich schwach an. Seine Hände bleiben auf meinen Schultern liegen und halten mich fest. Das Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und er sieht mich ernst an. „Wenn irgendwas ist, sag mir bitte Bescheid, okay? Nicht nur heute Abend, sondern generell. Du kannst mich jederzeit anrufen, das weißt du." Ich seufze und nicke langsam.
"Ich weiß. Danke, Felix." Er fixiert mich ein letztes Mal mit seinem durchdringenden Blick, bevor er sich umdreht, die Tür öffnet und wir zu unseren Freunden zurück gehen.

Midnight Rain (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt