Kapitel 11 - München

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Als ich am Montag das Gespräch mit meinem Chef suche, ist er zunächst überhaupt nicht begeistert davon, im September noch zwei Wochen länger auf mich verzichten zu müssen. Aber nach ein wenig Überredung und einem kurzen Gespräch mit meinen beiden Teamkolleginnen Lucia und Isabelle willigt er schließlich ein. Das Argument, dass ich einem guten Freund aushelfen muss, scheint ihn schließlich überzeugt zu haben.
Also öffne ich unser Online-Zeiterfassungs-Tool, verlängere meinen eingetragenen Urlaub um zwei weitere Wochen und klicke auf „Senden", bevor ich es mir nochmal überlegen kann.

Abends rufe ich Felix an. Es klingelt nur zweimal, bis er rangeht. „Hitler?" Ein wenig irritiert über seine Begrüßung lache ich auf.
„Hey, du Spaßvogel, hier ist deine Rettung in der Not." Ich grinse. „Mein Chef hat den Urlaub genehmigt. Ich schätze, wir beide werden bald sehr viel Zeit miteinander verbringen."
Er lacht. „Yes!!! Da bin ich aber froh."
Skeptisch schaue ich das Handy in meiner Hand an. „Wirklich? Ich wollte es am Freitag nicht sagen, weil du so verzweifelt gewirkt hast, aber glaubst du wirklich, dass es so eine gute Idee ist, wenn wir als Freunde zusammenarbeiten?"
„Wieso nicht? Chiara, ich arbeite seit Jahren mit meinem Bruder zusammen und wir haben uns noch nicht umgebracht. Auch, wenn wir vielleicht ein paar mal kurz davor waren." Er lacht und ich muss grinsen. „Das wird schon klappen, da bin ich mir sicher. Ich freu mich, dass du so schnell und kurzfristig zugesagt hast. Das wird cool, vertrau mir!"
Obwohl ich den skeptischen Teil meines Hirns noch immer nicht ganz abstellen kann, lächele ich. „Ich freu mich auch drauf, aber ich hab einfach Bedenken. Manche Leute fahren nicht mal mehr mit ihren Freunden in den Urlaub, weil sie damit schlechte Erfahrungen gemacht haben, und wir beide wollen zusammen durch Deutschland touren und haben dabei auch noch sowas wie ein Arbeitsverhältnis... ich weiß einfach n-"
„Jetzt hör schon auf", unterbricht Felix mich. „Außerdem gibt's jetzt eh kein zurück mehr. Du hast ja schon in deinem ersten Satz zugesagt."
Ich lache auf. „Verdammt!"

40 € pro Stunde. Das ist die Bezahlung, die Felix mir anbietet und tatsächlich hilft es mir dabei, mich wegen der ganzen Sache ein bisschen weniger schlecht zu fühlen. Ich verdiene mir in meinem Urlaub ein wenig Taschengeld dazu, während ich Felix den Arsch rette und drei Wochen lang in den schönsten Hotels Deutschlands übernachte und ihm Abend für Abend bei seinem Job zuschauen kann - es ist quasi eine Win/Win Situation für alle Beteiligten. Außerdem hat Felix nicht Undecht damit, dass dies für mich die perfekte Gelegenheit ist, endlich Ablenkung und Abstand zu meinen trüben Gedanken und meiner kaputten Beziehung zu bekommen.
Mein nächtlicher Zusammenbruch ist jetzt eine Woche her und mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass das nur ein Ausrutscher war. Ich werde Mario bestimmt nicht hinterher laufen und ihn anflehen, mich zurückzunehmen, nachdem ich all meinen Mut zusammen genommen habe, um ihn nach all den Strapazen endlich abzuservieren.
Bisher war ich noch nie der Part gewesen, der eine Beziehung beendet hatte. Und wer weiß, ob du es überhaupt gemacht hättest, wenn Felix nicht dabei gewesen wäre, um dir seelischen Beistand zu leisten....

Am 3. September geht es los. Es ist Sonntag und wir werden den größten Teil des Tages im Auto verbringen, weil der Tour-Auftakt ausgerechnet in München stattfinden muss.
Als wir alle in Felix' S-Klasse sitzen - Julian am Steuer, Felix auf dem Beifahrersitz und Nadja und ich auf der Rückbank - dreht Felix sich zu mir um. Er grinst mich herausfordernd an.
„Na, bist du bereit für die Fahrt?" Ich muss lachen. „Danke, dass du mich nicht fragst, ob ich bereit für die Tour bin, denn das könnte ich wirklich nicht beantworten." Ich erwidere sein Grinsen. „Aber für die Fahrt bin ich sowas von bereit. Ich freue mich auf 6 Stunden Psychoterror und ein Feuerwerk an Stresshormonen", sage ich und zwinkere ihm zu. Nadja lacht schallend über meinen Witz. „Hey, wenn du nicht aufpasst, nimmt sie dir noch deinen Job weg", witzelt sie und wuschelt Felix von hinten durch die Haare. Der verdreht nur die Augen. „Zum Glück muss ein Comedian mehr können, als Tiktok-Sounds zu zitieren", sagt er und zwinkert zurück.
Julian lacht. „Ich weiß nicht, ob du weißt, worauf du dich mit den beiden eingelassen hast", sagt er an Felix gewandt. „Das könnten sehr spannende drei Wochen werden."

Gegen 17 Uhr kommen wir endlich in München an. Auf dem Parkplatz vom „Bayerischen Hof" schnallt Felix sich sofort ab und öffnet hektisch die Beifahrertür. „Ich muss ganz dringend pissen", sagt er und ist im nächsten Moment verschwunden. Nadja und ich schauen uns an, dann brechen wir in Gelächter aus.
Ich lehne mich nach vorne und schaue Julian an. „Hat dein Bruder immer so eine schwache Blase? Auf dem Weg von Berlin bis hierher haben wir mindestens 10 mal angehalten wegen ihm!" Julian dreht sich zu mir um und hebt entschuldigend die Schultern. „Ja, das ist echt schlimm. Auf Autofahrten müssen wir grundsätzlich eine Stunde mehr einplanen, die nur für seine Pinkelpausen draufgeht. Und wenn er nervös ist, ist es sogar noch schlimmer."
Ich runzele die Stirn. „Warum ist er denn nervös? Er hat die Show doch schon tausendmal gespielt."
„Vielleicht, weil das jetzt wirklich der letzte Tourblock ist", wirft Nadja ein und lächelt mich an. „Nur noch diese drei Wochen und dann die Abschlussshow in Berlin, danach ist das Programm für immer vorbei. Das macht ihn schon ein wenig nervös."
Während wir aus dem Auto steigen und mit unseren Taschen Richtung Hoteleingang laufen, denke ich über ihre Worte nach. Kenne ich Felix wirklich so wenig, dass mir das nicht aufgefallen ist? Schnell schiebe ich diesen Gedanken beiseite. Nein, daran kann es nicht liegen. Seit ich ihn kenne, hat Felix immer versucht, seinen Job und sein Privatleben so gut es ging voneinander zu trennen. Zwar hat er mir und unseren Freunden nach jeder Tour davon berichtet, wie es gewesen war, doch seine Sorgen und Versagensängste hatte er dabei meistens verschwiegen. Wie zum Beispiel, dass ihm eine Mitarbeiterin ausgefallen war.
Ich lächele vor mich hin. Obwohl ich anfangs skeptisch gewesen war, ob es so eine gute Idee ist, ausgerechnet jetzt damit anzufangen, freundschaftliches mit beruflichem zu vermischen, habe ich jetzt ein gutes Gefühl dabei, Felix unter die Arme zu greifen. Dennoch gibt es da eine ganz leise Stimme in der hintersten Ecke meines Kopfes, die inständig hofft, dass wir das nicht noch bereuen werden...

In der Lobby kommt Felix uns entgegen und grinst uns zufrieden an. „Puh, das war dringend nötig."
„Danke für die Info", antwortet Julian grimmig und knallt seinem Bruder dessen Rucksack und die Reisetasche vor die Brust. „Dann kannst du deinen Kram ja jetzt wieder selbst schleppen."
„Hey, für irgendwas bezahl ich dich doch", sagt Felix und grinst ihn an. Im nächsten Moment duckt er sich vor Julians Hand, die einen Schlag gegen Felix' Schulter angedeutet hat.
Lachend schüttele ich den Kopf. „Sagt mal, wie alt seid ihr eigentlich?"
Nadja neben mir grinst ebenfalls. „Man sagt, Männer werden 8 Jahre alt und danach wachsen sie nur noch - ich glaube, vor uns stehen zwei sehr lebhafte Beispiele dafür."

Midnight Rain (Felix Lobrecht)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt