Kapitel 1: Nicht weinen

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Ich höre schon von weitem wie meine Mutter stampfend, schreiend und richtig wütend auf meine Kabinentür zukommt.

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«Ist das dein Schei*s Ernst?!» schreit sie mich an. Ich schliesse meine Augen und lasse es über mich ergehen. «Du machst diese Dinge seit acht Jahren und schaffst es immer noch nicht ohne zu stolpern? Und das auch noch zweimal? In einer Show?! Wir haben stundenlang laufen trainiert und du bist und bleibst unfähig. WAS SOLLTE DAS??? Das hätte sogar ich besser gekonnt!

«Nein, hättest du nicht!» wollte ich schon schreien, ich halte mich aber dann doch zurück.

Und dieses Kleid? Ich sagte Lavendel und nicht Magenta! LA-VEN-DEL! Du schaffst es nicht einmal Farben auseinander zu halten?! Du bist eine absolute Enttäuschung.»

Ich lasse sie einfach reden und schalte ab. Wieso sollte ich ihr zuhören? Sie schreit doch eh nur das gleiche wie schon die hunderten Male zuvor. Ich höre nicht hin und versuche krampfhaft meine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

Nicht weinen! Nicht weinen!

Nicht weinen!

Da mir das nicht auf Anhieb gelingt, ramme ich mir den Fingernagel in den Daumen und konzentriere mich auf diesen Schmerz. Meine Mutter bemerkt davon nichts und schreit einfach weiter...

Und weiter...

Und weiter...

Irgendwann, nach gefühlten Stunden, verlässt sie den Raum. Ich sitze einfach nur bedröppelt da. Irgendwann kommt meine Mutter wieder. «Was sitzt du immer noch da? Wir müssen los!» Das hätte ich schon fast wieder vergessen. Das wars noch nicht für heute. Wir haben noch einen Fotoshooting Termin für irgend so einen Kleiderladen. Ich kotz gleich. Ich mach Werbung für Zeug, was ich nicht mal mag. Ich habe Hunger des Todes und seit knapp 24 Stunden nichts mehr gegessen. Und jetzt sollte ich noch Werbung für irgendwelche Nachthemden machen? NACHTHEMDEN?! Nein danke! Aber ich habe ja keine Wahl. Also los. Ich ziehe mir noch bequeme Sachen über. Also eine Jogginghose und meinen übergrossen Hoodie. Ich fühle mich dadurch sofort besser.

Immerhin haben wir eine zweistündige Fahrt vor uns auf der ich mich ausruhen und mit Hilfe von meiner Musik ein wenig abschalten kann. Kurz nachdem sich das Auto in Bewegung setzt, döse ich, mit meiner Lieblingsmusik auf den Ohren, ein.

Es fühlt sich an wie Mitternacht als wir endlich ankommen. Als ich auf die Uhr schaue, ist es allerdings erst 20:28 Uhr. Ich erwarte, dass wir nach ungefähr eineinhalb Stunden fertig sein sollten. Somit bin ich frühstens um Mitternacht zuhause. Na super. Eigentlich wollte ich heute noch lernen. Das wird wohl nichts mehr. Meinen Eltern sind die Noten aber auch einfach egal. Ich brauche die Schule in meinem Job nicht. Und studieren ist, ihrer Meinung nach, sowieso sinnlos...

Als wir ankommen, werden wir als erstes in eine Art Halle geführt. In jeder Ecke steht ein grosser, gut beleuchteter Greenscreen. Mir wird einer davon zugewiesen. Auch auf den anderen wird in diesem Moment gemodelt. Ausserdem wuseln viel zu viele Menschen herum. Vielleicht sind es auch nur ca. 15. Wie gesagt, zu viele. Ausserdem ist es viel zu kalt für Nachthemden. Vielleicht 15 Grad. Kurz darauf bringt man mich in eine Umkleide. Die drei Nachthemden sind potthässlich. Wirklich. Ich darf mich heute nicht mal selbst schminken. Das ist nämlich das Einzige, was mir in diesem Beruf Spass machen würde. Aber Augen zu und durch.

Ich setze mich an den Schminktisch und lasse mir von der jungen, freundlichen Make-Up Artistin Schminken. Sie versucht am Anfang noch ein Gespräch mit mir anzufangen und stellt sich als Julia vor. Sie merkt jedoch schnell, dass ich wirklich nicht in Stimmung dazu bin. Also schweigen wir beide.

Als sie 10 Minuten später fertig ist, verlässt sie schweigend den Raum. Sie tut mir fast schon leid. Ich hatte aber einfach die Energie für dieses Gespräch nicht. Auch ich stehe jetzt auf und ziehe diese hässlichen Teile an. Ich sehe kurz prüfend in den Spiegel und betrete dann die Greenscreen-Ecke. Natürlich hoch motiviert. *Augenverdreher* Ich spüre den kritischen Blick meiner Mutter aus der linken hinteren Ecke. Ich schaue nicht hin. Warum sollte ich auch?

Ich stelle mich auf den Greenscreen und fange an zu Posieren. Mein Hirn funktioniert, wie von selbst und ich kann einfach abschalten. Meine Gedanken schweifen ab und ich bin eigentlich nicht mehr da. Nur noch mein, von selbst posierender Körper, ist noch da.

Nach einer halben Stunde ist das erste Nachthemd fertig geshootet und die ganze Prozedur wiederholt sich. Als die nette Make-Up Artistin wieder kommt, um mich nochmals neu zu schminken habe ich sogar ein wenig Energie, um mich mit ihr zu unterhalten. Nur Smalltalk, aber immerhin. Als sie wieder geht, fühle ich mich sogar ein wenig besser und ich habe ein bisschen gelacht. Als sie zum dritten Mal kommt, fange ich richtig an sie zu mögen. Sie hat einen nicen Humor und ihre lockere Art ist irgendwie beruhigend. Als ob ich seit Wochen endlich mal wieder mit einer normalen Person sprechen würde.

Das dritte Nachthemd ist nochmal doppelt so hässlich wie die anderen beiden. Ich hasse Blümchenmuster und dann auch noch dieses Schreckliche olivgrün. Ich war richtig froh als wir dann um 22:15 endlich fertig waren und wieder fahren konnten. Leider habe ich die freundliche Make-Up Artistin dann nicht mehr gesehen. Ich konnte mich nicht einmal mehr verabschieden.

Als wir zuhause sind, blüht mir die zweite Standpauke des Tages. Dieses Mal kommt sie von meinem Vater. Natürlich müssen sie es nochmal ansprechen. Ich habe doch den Wettbewerb gewonnen?! Aber es ist ihnen egal. Es war nicht gut genug. Ich war nicht gut genug. Ich bin nicht gut genug. Ich werde nie gut genug sein. Niemals

Mit diesen Gedanken schlafe ich später ein... 

Zwischen Applaus und SelbstzweifelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt