Kapitel 2: Engelsflügel

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5:50 Uhr morgens. Mein Wecker klingelt in der Lautstärke eines Presslufthammers. Und das ist nicht mal übertrieben. Ich glaube unser ganzes Quartier ist jetzt wach. Meine Mutter betritt mein Zimmer und stellt mir einen Karton mit der Aufschrift «Prada» mitten ins Zimmer. Ich hasse diese teuren Modemarken. Ich probiere das schwarze Kleid darin an. Es passt perfekt und ich finde es überraschend hübsch.

Ich freue mich schon seit Ewigkeiten auf das heutige Outfit. Nicht wegen des langweiligen, schwarzen Kleides, sondern wegen des besonderen Accessoires. Ich habe nämlich vor zwei Wochen diese riesigen Engelflügel im Internet gefunden. Ich liebe auch das Thema der heutigen Show. «Black and White». Ausserdem kann ich mich heute auch endlich wieder einmal selbst schminken.

Ich hole also die Flügel aus meinem Schrank, ziehe sie an und schaue in den Spiegel. Sie gehen mir bis über den Kopf und fast bis zu meinen Knien runter. Ausserdem ergänzen sie meine Bewegungen, als würden sie schon immer zu mir passen. Weisse Wimperntusche, silberner Lidschatten und schwarze Lippen würden echt gut dazu passen, wie ich finde. Ich sehe alles schon vor mir. Aber da hat meine Mutter auch noch ein Wörtchen mitzureden. Wenn man vom Teufel spricht. Da steht sie schon wieder in der Tür. Mit einer Mandarine. Natürlich. Wahrscheinlich meine einzige Mahlzeit für die nächsten 24 Stunden. Aber ich geniesse Sie. Zur Abwechslung etwas Süsses zu schmecken ist wunderbar.

20 Minuten und ein paar Diskussionen später, haben wir uns dann doch auf meinen Make-Up Vorschlag geeinigt. Ausnahmsweise gab mir meine Mutter recht.

Endlich fahren wir los. Auf der Fahrt informiere ich mich übers Internet nochmals über die Regeln des Heutigen Wettbewerbes. Er läuft ab wie jeder andere. Meine Motivation hält sich, trotz der Engelflügel, in Grenzen.

Kurz darauf kommen wir, mit wenig Verspätung, an. Ich ziehe mich schnell um und konzentriere mich dann auf mein heutiges Make-Up. Ich liebe meine weisse Wimperntusche in Kombination mit dem schwarzen Lippenstift. Danach binde ich meine Haare zu einem strengen Dutt zusammen. Meine Engelflügel passen perfekt dazu. Ausnahmsweise bin ich richtig stolz auf mein Aussehen. Ich schaue nochmals in den Spiegel und nicke zufrieden, bevor ich meinen Platz hinter der Bühne einnehme.

Langsam steigt meine Nervosität an. Ich darf das heute nicht verkacken. Auf gar keinen Fall! Ich kann heute keine Standpauken ertragen. Weder von meinem Vater noch von meiner Mutter. Ich kann sie nicht schon wieder Enttäuschen.

In dem Moment sehe ich die anderen Teilnehmer. Ich habe so gut wie verloren. Ich habe noch nie so schönes Make-Up wie das, dieses Mädchens gesehen. Ausserdem hat sie lange Beine, ein bodenlanges, schwarzes Kleid mit Puffärmeln und die schönsten Ohrringe, die ich jemals gesehen habe. Sh*t. Ich bin verloren, wenn sie sich nicht übelst auf die Fresse legt. Und wenn sie hinter der Bühne schon so marschiert, wird das mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht passieren. Was mach ich jetzt?

In dem Moment biegt meine Mutter um die Ecke. Sie sieht schon jetzt wütend aus. Na super. Als sie das andere Mädchen sieht, werden ihre Augen zuerst merkbar gross und direkt danach zu ganz kleinen schlitzen und dann stampft sie, jetzt noch wütender, auf mich zu. Sie sagt aber nichts dazu. Ich weiche ihrem prüfenden, kritischen Blick aus. Sie nickt, mehr oder weniger zufrieden, sagt aber immer noch nichts. Ich sehe jedoch, wie sie wieder an mir zweifelt.

«In fünf Minuten kommen bitte alle Teilnehmer auf die Bühne und stellen sich in einer Reihe auf.» tönt es aus dem grossen Lautsprecher in der Ecke.

Meine Mutter erinnert mich nochmal daran aufrecht zu gehen und verschwindet dann ins Publikum. Jetzt bin ich echt krass nervös. Und dieses Mädchen mit dem schönen Kleid hat es nicht besser gemacht. Egal. Jetzt nicht daran denken und Selbstbewusstsein vortäuschen. Fake it till you make it, oder so. Also strecke ich meinen Rücken durch und betrete die Bühne. Let's go!

Der Wettbewerb besteht aus drei Runden. Runde eins: Laufsteg auf und ab laufen. Runde zwei: posieren auf der Stelle. Runde drei: laufen, posieren, laufen. LANGWEILIG! Aber die Leute feiern es und es funktioniert. Bei mir sind alle Runden überdurchschnittlich gut gelaufen. Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl. Ich stehe auf der Bühne zwischen den vielen anderen, meist viel zu dürren, Mädchen. Wir sind eigentlich alle gleich. Ausser, dass die meisten diesen Schei*s wahrscheinlich freiwillig machen.

«und der Gewinner dieser heutigen Show ist...» Ich bin nervös wie schon lang nicht mehr. War es gut genug? Stimmte mein Make-Up? War jemand anderes besser?

«Sabrina Blau!»

Fu*k. Ich wusste es. Dieses Mädchen mit dem Bodenlangen Kleid tritt vor und nimmt den Preis entgegen. Ich renne, sobald ich kann, enttäuscht von der Bühne. Genau heute, wo meine Leistung so gut war wie sonst fast nie, ist diese Sabrina da. Ich kann mir die Tränen nur knapp bis zu meiner Kabine verkneifen. Danach laufen sie ohne Pause. Ich lehne mich gegen die geschlossene Tür und rutsche daran runter. In dem Moment klopft es an meiner Tür.

«Hey! Sabrina hier. Du hast, glaube ich, deinen Ohrring verloren. Kann das sein?»

Ich fasse mir aus Reflex an mein Ohr. Sie hat recht. Aber ich kann ihr doch jetzt nicht verheult die Türe öffnen?! Ich antworte, mit möglichst wenig zitternder Stimme: «Sorry, geht grad schlecht. Kannst du ihn mir vor die Tür legen?» «Klar, mach ich. Ist alles Okay bei dir? Du bist vorhin so schnell verschwunden. Wir anderen feiern noch die gelungene Show. Und deine ins Auge stechenden Flügel dürfen wohl kaum fehlen» Sie fängt an zu lachen. Doch ich antworte ihr nicht. Ich weiss, dass meine Stimme brechen würde. Sie darf mich so nicht sehen. Niemand darf mich so sehen. Absolut Niemand niemals.

Nach langen fünf Minuten höre ich wie sich ihre Schritte entfernen.

«Okay, dann nicht sorry...»

Das waren die längsten fünf Minuten meines Lebens. Ich atme langsam aus... Es tut mir jetzt richtig leid, dass ich nicht antworten konnte. Doch was hätte ich tun sollen? Mich blamieren und als schlechte Verliererin outen? Nein danke.

Ich öffne langsam die Tür und nehme mir meinen Ohrring. Als ich wieder in meiner Garderobe bin, fange ich an mich abzuschminken und ziehe mich um. Als ich fast fertig bin, öffnet sich meine Tür. Jetzt geht's erst richtig los...

«Wir klären das zuhause.» sagt meine Mutter nur und geht wieder. Oh sh*t. Sie ist richtig wütend. Und ich komplett am A*sch... 

Zwischen Applaus und SelbstzweifelnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt