I. Bärenangriff

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Trigger Warnung: Tod der Eltern durch Bärenangriff
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Annes Sichtweise

Ich wusste nicht, wie weit ich schon gerannt war. Solange, wie ich gelaufen war, hätte ich weit genug weg sein sollen, um dem Monster, dass meine Eltern zerfleischt hatte, entkommen zu sein. Allerdings war ich erst sechs Jahre alt, als meine Eltern starben. Ich hätte genauso gut erst ein paar Meter gelaufen sein können, doch durch meine kurzen Beine hatte es sich wie eine enorme Weite angefühlt. Nachdem ich mich erschöpft an einen Baum gelehnt hatte, ließ ich den Tränen freien Lauf. Ich wusste nicht, wo genau ich war. Meine Mutter befahl mir nur zu rennen. Als ich rannte, konnte ich ihre schmerzerfüllten Schreie hören. Mein Vater war schon tot, als ich losrannte. Er hatte sich mutig dem Bären, heute bekannt als Mor'du, entgegengestellt, doch hatte keine Chance. Es hatte keine Minute gebraucht und er lag aufgerissen am Boden. Aus meinem Schockzustand kam ich erst heraus, als meine Mutter mich wegschob. Zuerst dachte ich, sie würde mir folgen, doch mir wurde später klar, dass sie sich dem Bären gestellt hatte, damit ich davonkam. Spätestens als ich ihre Schreie hörte, wusste ich, dass sie nicht hinter mir war. 

Doch nun war alles still. Nur mein Schluchzen war zu hören. Ich hatte nicht einmal das kleine blaue Lichtchen vor mir bemerkt. Das Irrlicht sollte aber auch nicht mich führen, sondern jemand anderen zu mir.

Als die Büsche anfingen zu rascheln, war ich schnell auf den Beinen. Ich wollte gerade losrennen, aus Angst, dass es Mor'du sein könnte, bis ein roter Lockenkopf mir entgegentrat. 

Während ich durchatmete, ließ ich den fremden Jungen, der in meinem Alter zu sein schien, nicht aus den Augen. Er hatte einen Pfeil in der Hand und legte seinen Kopf schief, als er mich fragend ansah. Die Irrlichter waren lange schon verschwunden. Es waren nur noch er und ich und ein riesiger Bär irgendwo hier im Wald. 

"Hast du geweint?" Ich schniefte einmal, was ihm als Antwort zu reichen schien. Er kam einen Schritt näher zu mir und hielt mir grinsend seine kleine Hand hin. "Ich bin Merit. Du brauchst nicht mehr traurig sein. Ich pass' jetzt auf dich auf." Ich nahm seine Hand und stellte mich ebenfalls vor. 

"Wo sind deine Eltern?" Nicht daran denken. Nicht daran denken. Ich schniefte nochmal. "Nicht mehr hier", antworte ich nur. Er sah mich entschuldigend an, bevor er in die Ferne blickte und anfing zu strahlen. Ich folgte seinem Blick und versuchte, das Bild meines toten Vaters aus dem Kopf zu bekommen. Es funktionierte nicht. 

Merit nahm mich plötzlich am Arm und zog mich in eine Richtung, in welcher ich wenig später eine Reihe blau leuchtender Irrlichter sah. Auch die konnte mich nicht aufheitern. "Ich bring' dich zu Mama und Papa. Vielleicht kannst du bei mir wohnen." 

Ich widersprach nicht. Es klang zumindest besser, als im Wald allein zu leben, bis mich Mor'du fand. Und Merit schien vertrauenswürdig. Zumindest so weit, wie mein traumatisiertes, sechsjähriges Ich das beurteilen konnte.  Er wollte mich immerhin nicht mit dem Pfeil erstechen, den er in der Hand hatte. Das war vertrauenswürdig genug. 

Er zog mich zu einer Lichtung im Wald. Kurz bevor wir ankamen, rief eine Frauenstimme nach ihm, die sich schnell als seine Mutter herausstellte. Ein großer Mann mit denselben roten Locken wie Merit war sein Vater. Die beiden stellten mir ähnliche Fragen wie Merit. Warum hast du geweint und wo sind deine Eltern? Die Antwort fiel diesmal etwas besser aus. "Da war ein Bär. Meine Eltern sind ..." Ich hatte das Wort nicht gesagt, aber die beiden konnten es sich denken. Merit, der immer noch neben mir stand, zog mich in eine Umarmung, die mich nur noch mehr zum Weinen brachte. Doch ein Schrei unterbrach die angenehme Stille schnell. Ich brauchte eine Sekunde, bis ich realisierte, dass ich die war, die schrie. 

Mor'du türmte über uns und brüllte. Seine Zähne waren noch blutig und ich zitterte am ganzen Körper, als Merits Mutter uns beide nahm und rannte, während sein Vater sich mit anderen bewaffneten Männern gegen ihn stellte. 

Mein Vater hatte keine Waffe. Wir waren spazieren im Wald, so wie wir es relativ oft getan haben. Mit einem Bären hatten wir nicht gerechnet. 

Vielleicht haben diese Männer eine Chance. Zumindest hatten sie eine bessere als meine Eltern. 

Die Männer waren schnell aus meinem Sichtfeld, als wir drei auf einem Pferd davon ritten. Merits Mutter, Elinor, sah mich mitleidig an, während ich versuchte, nicht wieder zu weinen. "Fergus wird es gut gehen. Er hat schon viel mehr überlebt." "Das stimmt. Papa hat schon in einem Krieg gekämpft." Es sollte mich aufheitern, aber das tat es nicht. Denn, wenn ich ehrlich war, war mir Fergus zu dem Zeitpunkt egal. Mir hätte es für Merit und Elinor leid getan, aber ich kannte ihn nicht. Vielleicht hatte ich an dem Tag aber auch schon genug getrauert, um noch eine Person auf meine Liste zu setzen. 

Im Nachhinein schämte ich mich für den Gedanken, aber zum Glück war Fergus wirklich nichts passiert. Ich erfuhr schnell, dass es sich bei der Familie um die Königsfamilie handelte, als wir in einer Burg ankamen und wir gleich von verschiedensten Bediensteten begrüßt wurden. Dass ich überfordert war, wäre eine Untertreibung gewesen. 

So viele Leute, die mich umsorgten, war ich nicht gewohnt. Einer Frau schien ich es besonders angetan zu haben. Maudie war ihr Name. Sie war im Endeffekt auch die, die mich aufgezogen hat. Sie war etwas durcheinander, sehr schreckhaft und manchmal benahm sie sich etwas dümmlich, aber ohne sie wäre ich wahrscheinlich nicht die, die ich heute war.

Zehn Jahre ist es nun her, seit meine Eltern von Mor'du getötet wurden und Fergus sein Bein an den Bären verloren hatte. Er ging in die Geschichtsbücher ein, als der, der den Bären in die Flucht geschlagen haben soll. Zumindest hat sich Mor'du seitdem nicht blicken gelassen. Meine Eltern und zwei Männer der Garde waren seine letzten bekannten Opfer. Und ich hoffe, dass das auch so bleiben wird. Es sollen nicht noch mehr Menschen sterben wegen dieses Monsters. Ich hoffe einfach, dass es meinen Eltern im Jenseits gut geht und sie stolz auf mich sind. Meine Mutter wäre es bestimmt. 

Angestellte am Hof. Im engsten Kreis der Königsfamilie. Davon hätte ich damals nicht mal träumen können. Vater hätte nur lachend mit dem Kopf geschüttelt, hätte ihm jemand damals erzählt, dass ich da bin, wo ich gerade bin. Er hätte das nie glauben können. Aber er wäre stolz auf mich.

Hoffentlich.

Verändertes Schicksal (m.Merida - Merida)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt