Kapitel 1 Martha

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Obwohl es mir verboten ist, sitze ich auf einem der großen, alten Obstbäume in unserem Obstgarten und sehe der Sonne zu, wie sie am Horizont untergeht. Diesen Moment müsste man einfangen...
Eine Zeichnung könnte ich machen.
Ich krame also in meiner Rocktasche nach einem Stift und etwas Papier und beginne mit meiner Zeichnung der Felder, Wiesen und der untergehenden Sonne.
Viele Stunden habe ich schon in den Ästen dieses Baumes gesessen und versucht die Welt um mich herum zuvergessen. All meine Pflichten und Sorgen.
"Martha! Komm sofort da runter!"
Meine Mutter. Sie steht dort mit einem Korb Eiern in der Hand und wirft mir einen grimmigen Blick zu.
Ich seufze und klettere den Baum hinunter, während ich darauf achte meinen knöchllangen Rock nicht zu zerreißen. Das tue ich aber auch nur, weil meine Mutter daneben steht.
Als ich wieder auf festem Boden stehe,verpasst diese mir einen Schlag ins Gesicht. Er ist nicht wirklich fest, tut aber trotzdem weh.
„Hör auf mit solchen Dummheiten, Kind! Du bist doch kein Knabe. Wenn du so weitermachst, wirst du nie einen Mann finden"
Ich schaue betreten auf meine Füße. Doch eigentlich tut es mir gar nicht leid. Mir ist es egal was die anderen Leute denken. Wenn ich auf Bäume klettern möchte, dann tue ich das eben.
Dennoch entschuldige ich mich, um mir nicht noch einen Schlag einzufangen und folge meiner Mutter in unser kleines Haus.
Drinnen ist es recht warm und meine beiden kleinen Geschwister laufen wild umher.
Svea lächelt als sie das Papier in meiner Hand sieht und stürmt auf mich zu.
Sie ist acht Jahre alt und liebt meine Kunstwerke.
„Hast du etwas neues gemalt, Schwester?", fragt sie und blickt mit ihren leuchtend blauen Augen zu mir hinauf.
Ich nicke und zeige ihr meine kleine Zeichnung des Sonnenuntergangs.
Ihre Kinnlade klappt nach unten, als sie sie sieht.
„Das ist wunderschön"
Svea schenkt mir ihr strahlendes Zahnlückenlächeln.
„Wenn du möchtest, schenke ich es dir"
„Oh ja!"
Ich gebe Svea das Blatt und sie hüpft lächelnd damit in den Schlafraum.
„Martha! Hilf deiner Mutter bitte beim Vorbereiten des Abendessens. Es gibt Gemüsesuppe", sagt meine Mutter und beginnt eine Rübe zu schneiden. Ich eile ihr zur Hilfe.
Rechtzeitig zum Essen, kommt mein Vater, Gustav, nach Hause.
Er verbringt die Tage häufig auf dem Feld oder beim Handeln auf dem Markt.
„Trockenzeit", schnaubt er und lässt sich müde auf einen der Stühle sinken.
„Die Ernte wird bald wieder mickrig ausfallen"
Mutter, die übrigens Annabeth heißt, gibt ihm einen Kuss auf den Kopf und stellt ihm einen Krug Bier hin.
Mein Bruder Nils kommt an den Tisch. Erist zwölf und manchmal echt nervig.
„Ich will auch Bier haben, wenn Vater welches bekommt", sagt er und setzt sich neben mich.
„Nein für dich gibt es noch kein Bier, aber etwas Milch darfst du trinken", antwortet Mutter undstellt eine Kanne Milch auf den Tisch, daneben die dampfende Suppe.
Nun kommt Svea auch und setzt sich neben mich auf die andere Seite.
Nach dem üblichen Tischgebet, verspeisen wir gemeinsam die köstliche Suppe.
„Wann soll unsere Tochter eigentlichmal unter die Haube kommen? Ich meine Martha ist bereits 17 und hat noch keinen Mann"
Vater sieht mich erwartungsvoll an.
Ich verschlucke mich beinahe an einem Rübenstück.
Da ist es. Das Gespräch vor dem ich seit Jahren Bange habe. Das Gespräch über meine Hochzeit.
„Der Friedrich der Nachbarn wäre doch ein stattlicher Bursche. Denen wird deine Mitgift auch sicherlich genügen. Ich meine die haben ja auch nicht sonderlich viel", setzt Vater dann fort.
Ich hasse es. Warum dürfen wir Frauen nicht selbst entscheiden wann und vor allem wen wir heiraten? Wir werden wie Gegenstände behandelt. Verhandelt.
Ich sehe auf, direkt in das Gesicht meines Vaters.
Er möchte, dass ich jetzt etwas sage.So etwas, wie eine Meinung, die es eigentlich nicht gibt, da nur eine richtig ist. Als ich nichts sage, blickt er zu meiner Mutter.
„Freilich. Er ist ein toller, junger Mann. Ich werde morgen direkt zu ihnen laufen und mit ihnen sprechen. Wir müssen uns schließlich beeilen. Unser Liebling wird ja nichtgerade jünger. Martha bekommt ihr bestes Kleid und wird herausgeputzt. Die Eltern vom Friedrich sind ja glücklicherweise mit uns befreundet", sprudelt Mutter. Sie ist fast nicht mehr aufzuhalten. Eigentlich hätte sie es am liebsten gehabt, wäre ichschon mit 15 verheiratet gewesen, doch Vater hat das zu entscheidenund so wartete sie bis heute.
„Wirst du dann nicht mehr hier sein, Schwesti?", fragt mich Svea dann.
Ich seufze und sehe sie direkt an.
„Alles wird gut. Ich werde euch häufig besuchen kommen"
Dann gebe ich meiner Schwester einen Kuss auf die Stirn und sehe wieder zu meiner Mutter.
Sie lächelt zufrieden.
„Also bist du einverstanden mit Friedrich, wenn er dich will?"
Als ob ich eine Wahl hätte.
Ich nicke knapp, obwohl sich alles in mir dagegen windet.

Der nächste Tag ist beängstigend.
Alles wird darauf vorbereitet, dass ich einen guten Eindruck bei meinem wahrscheinlich zukünftigen Ehemann mache.
Ich bade, mache mein braunes Haar und ziehe mein schönstes Kleid an.
Ein weiß-blau kariertes, das Mutter mir so eng schnürt, dass ich beinahe keine Luft mehr bekomme.
Außerdem muss ich meine Haltung, meine Art zu Reden und meinen Knicks noch einmal üben.
Als ich vor unserem Aufbruch nocheinmal in den Spiegel sehe, erblicke ich ein ängstliches Mädchen, ein trauriges Mädchen, in dessen braunen Augen die Tränen stehen.

Und nun stehe ich hier. Vor der Eingangstür des ebenso kleinen Hauses, wie unserem und warte darauf, dass uns einer der Familienmitglieder die Tür öffnet.
Mutter ist auch mitgekommen und hat ein paar Blumen in der Hand.
„Einen wunderschönen guten Morgen, die Damen!", begrüßt uns eine gutgelaunte Dame im Alter meinerMutter.
„Kommen Sie doch herein. Friedrich wartet schon"
Wir folgen der Dame in die Küche, wo Friedrich am Tisch sitzt.
Friedrich ist ein breitschultriger Mannmit blondgelocktem Haar. Er ist vielleicht 21, aber sieht nicht so aus als würde er irgendetwas von Zahlen verstehen.
„Küss die Hand, gnädige Frau", trällert dieser und drückt mir einen sabrigen Schmatzer auf die Hand.
Igitt. Na das kann ja heiter werden.
Er stinkt nach Schweinemist und hat dreckige Kleidung an.
Und für den musste ich mich hübsch machen?
Wir setzen uns schließlich zu ihnen anden Tisch.
„Es freut uns sehr, dass sie Zeit hatten uns zu besuchen. Wir sind so aufgeregt, dass unsere Bursche nun endlich ein Mädchen finden wird und noch dazu ein so entzückendes!", sagt Friedrichs Mutter.
Letzteres sollte ein Kompliment sein, also lächle ich höflich.
Friedrich hat bereits seinen Arm ummich gelegt und ist nah an mich herangerückt.
Er stinkt so schrecklich. Es wäre allerdings sehr unhöflich sich die Nase zuzuhalten, also tue ich so als wäre mir schrecklich heiß und fächere mir mit der Hand Luft zu. Das vertreibt den Gestank glücklicherweise ein wenig.
„Wann soll die Hochzeit dennstattfinden?", fragt meine Mutter dann in die Runde.
„Am besten schnellst möglich.Wir haben leider nur die Mittel für eine kleine Hochzeit. Ich werde,wenn ich morgen auf der Messe bin, direkt mit dem Pfarrer sprechen"
Friedrichs Mutter, deren Name mir nicht bekannt ist, klatscht freudig in die Hände.
„Nun, sprechen wir über die Mitgift..."
Es ist schrecklich, dass ich diesen abscheulichen Mann heiraten muss.
Friedrich verengt seinen Griff und zieht die ganze Zeit den Schleim in seiner Nase hoch. Ab und angrunzt er glücklich, während meine und Friedrichs Mutter über mich sprechen, als sie ich ein Gegenstand.
Das geht mir alles zu schnell. Das ist mir alles zu viel.
Abrupt springe ich auf, renne nach draußen. Ich habe keine Ahnung wohin, aber ich renne so schnell es nur geht.
Die Rufe meiner Mutter werden immer leiser, bis sie schließlich irgendwann verschwinden.
Während mir Tränen über mein Gesicht rinnen, durchquere ich einen, mir fremden, Wald.
Nach ein paar Kilometern lichtet sich dieser dann und ich gelange an das Ufer eines Sees. Er ist nicht sonderlich breit. Vielleicht ein paar hundert Meter, doch so lang, dass man seine Enden nicht sehen kann.
Plötzlich überkommt mich eine schreckliche Müdigkeit und ich lasse mich zwischen Sand und Kieselsteinen nieder.
Ich bin noch nie allein so weit von Zuhause weg gewesen. Die meiste Zeit verbringe ich nämlich auf unserem Hof.
 Irgendwann sinke ich dann langsam in einen traumlosen Schlaf.

Am anderen Ufer des SeesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt