Kapitel 15 Martha

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Der Brief mit Heljas genialer Erkenntnis kommt an jenem Tag und raubt mir den Atem.

Ich werde sie bald berühren können. Sie wird mir bald ganz nah sein!

Nun heißt es abwarten und die Zeit vertreiben.

Zum Beispiel damit meine Familie zu besuchen! Ich habe Friedrich gestern gefragt, ob wir das nicht einmal tun könnten und er willigte tatsächlich ein! Ich sollte nur schwören nichts über den Vorfall, der mich beinahe mein Leben gekostet hätte, zu erzählen.

Außerdem denke ich, dass ich tatsächlich schwanger bin.

Als meine monatliche Blutung nicht kam, habe ich geweint. Ich hoffe nur, dass mein Kind nicht solch ein Taugenichts wie Friedrich werden wird.

Morgen werden wir sie besuchen und Friedrich besteht auch darauf, dass ich es ihnen sage.

Er hat sich an diesem Tag, als ich ihm sagte, dass ich wahrscheinlich ein Kind erwarte nämlich unendlich viel gefreut.

Am nächsten Tag werden wir von einer Kutsche abgeholt und müssen dem Kutscher das entsprechende Geld zahlen.

Friedrich beschwert sich über die Kosten und sagt, dass wir das nicht häufig machen können, was mich sehr betrübt.

Und dann entdecke ich am Horizont mein altes Zuhause.

Eine angenehme Wärme breitet sich in meinem Bauch aus. Ich werde sie alle sehen. Sie alle in den Arm schließen können.

Wir klopfen an der Tür.

Schon einen Moment später wird diese von Svea geöffnet.

Als sie mich erblickt schreit sie: „Martha!"

Und klammert sich an mich.

„Oh Martha! Ich hab dich so vermisst!"

Ihre Augen leuchten.

Ich muss mir die Freudentränen aus den Augenwinkeln wischen.

Dieses Leuchten habe ich so sehr vermisst.

„Du bist ja ganz schön gewachsen"

Svea lächelt stolz.

Mutter, Vater und Nils sind nun auch gekommen. Sie haben Sveas quieksen anscheinend gehört.

Wie ich mich freue sie alle zu sehen!

Ich nehme einen nach dem anderen in den Arm.

„Ach das ist ja eine wunderbare Überraschung! Kommt doch herein! Ich setze eine Kanne Tee auf"

Mutter eilt in die Küche und wir setzen uns an den Tisch.

Hier zu sein macht mich einfach unendlich glücklich.

Svea hat sich auf meinen Schoß gesetzt und wippt aufgeregt hin und her.

Nils sitzt neben mir und lächelt mich an.

Auf der anderen Seite sitzt Friedrich und sieht ziemlich gelangweilt aus.

Mutter und Vater sitzen mir gegenüber.

„Erzählt doch mal, wie ist das neue Leben zu zweit? Gibt es vielleicht irgendwelche...Neuigkeiten?"

Die Anspielung ist unüberhörbar.

„Ja Mutter, wir erwarten wahrscheinlich ein Kind"

Mutter seufzt theatralisch.

„Ei, wie schön! Das habe ich mir gleich gedacht!"

Natürlich hat sie das. Sie fiebert schließlich schon seit Jahren darauf hin.

Auf einmal tippt Svea mich an und winkt mich näher zu sich heran.

„Der Mann riecht scheußlich", flüstert sie in mein Ohr.

„Ich weiß", flüstere ich zurück.

„Darf ich mit Martha in den Stall gehen?", fragt sie dann unsere Eltern.

Mutter ist erst etwas zögerlich, doch nickt dann.

„Aber nur kurz, wir wollen schließlich auch noch etwas von unserem Liebling haben"

Svea nickt und zieht mich mit sich.

„Und du bekommst wirklich ein Kind?", fragt sie mich dann auf dem Weg.

Ich nicke.

Sveas Augen weiten sich.

„Ich werde eine Tante!"

Sie strahlt.

Im Stall angekommen, fragt sie mich, ob ich Lust auf eine Strohschlacht hätte.

Natürlich muss sie mich nicht zweimal fragen. Ich würde jederzeit ja dazu sagen.

Es ist wie in alten Tagen. Wir lachen einfach und haben Spaß.

Ich kann einfach meine Probleme und sorgen vergessen.

Als wir außer Atem sind, legen wir uns ins Heu und Svea kuschelt sich an mich.

Wie in alten Zeiten.

Ich möchte nicht wieder zurück in mein altes Leben, in dem das einzig Richtige ist, dass ich die falsche Person liebe.

Die Zeit mit Svea und meiner restlichen Familie ist viel zu schnell vorbei. Ich habe noch mit Nils sein Lieblingsspiel, fangen, gespielt und mich noch recht belanglos mit meinen Eltern unterhalten. Ich wünschte ich könnte ihnen erzählen, wie schlecht es mir geht. Was Friedrich mir angetan hat. Doch dieser lässt seinen Blick nicht von mir und ist wachsam auf jede meiner Bewegungen, jedes Wort fixiert.

Als es dämmert, fahren wir wieder zurück. Eigentlich habe ich gedacht, dass wir auch Friedrichs Eltern besuchen würden, doch dem ist nicht so.

Friedrich meint es sei Unsinn.

Der Schlaf kommt diese Nacht überraschend schnell.

Ich bin müde von den Spielen mit den Kindern und es liegt vielleicht auch an meiner Schwangerschaft.

Helja konnte ich heute nicht sehen, doch sie wusste ja, dass ich vielleicht meine Familie besuche.

Tag für Tag verstreicht. Jeden Tag fühle ich mich wieder wie Friedrichs Dienerin und in den Abenden bin ich am See, tausche Briefe mit Helja aus. Ab und an schreibt sie mir auch Gedichte und ich lege ihr kleine Zeichnungen dazu.

Es stellt sich heraus, dass ich tatsächlich ein Kind erwarte, doch das stört mich nicht allzu sehr und auch all das andere Elend mit Friedrich, weil ich weiß, dass ich sie schon bald in die Arme schließen werde.

Der Tag an dem es dann endlich passiert, ist der 18. November.

Es ist ein sehr kalter Tag. Die Felder sind mit Raureif bedeckt und es fällt der erste Schnee. Als sich dann schließlich der Nachmittag dem Ende zuneigt, gehe ich an den See.

Seitdem es kälter geworden ist, hoffen Helja und ich jeden Tag dasselbe. Bitte lass ihn zugefroren sein.

Als ich den See dann durch die Äste der Bäume erblicken kann, sehe ich, dass sich eine Eisdecke über ihm ausgebreitet hat.

Ich werde schneller, fühle mich leicht wie eine Feder. Endlich! Endlich!

Helja steht bereits auf der anderen Seite und winkt mir aufgeregt zu. Mein Kopf ist wahrscheinlich purpurrot vor lauter Freude und ich wage schließlich einen Schritt auf das, noch dünne, Eis. Doch ich bin mir sicher, dass es mich tragen können wird.

Schritt für Schritt taste ich mich langsam voran. Jetzt bloß keine falsche Bewegung.

KNACK

Ich bin wie versteinert. Kann mich nicht mehr bewegen. Unter mir haben sich Risse geblidet.

KNACK, KNACK

Mein Atem wird hektischer. Kann ich noch zurück? Ich will mich gerade umdrehen, doch dann...

KNACK, KNACK, KNACK, KNIRSCH

Ein Riss in meiner Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass ich erst gar nichts spüre und dann viel zu viel. Es ist viel zu kalt. So kalt, dass ich ohnmächtig werde.


Am anderen Ufer des SeesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt