19. Kapitel: Rache

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Die Welt ist dunkel. Verwirrt und verängstigt dreht sie sich nach allen Seiten. Nichts. Kein Fünkchen Licht. Zitternd atmet sie aus. Wo sind die anderen? Auch der Himmel über ihr ist tiefschwarz. Moment. Nicht ganz. Blinzelnd sieht sie nach Osten. Dort glüht der Horizont rot-orange. Da wird ihr klar, was passiert ist. Sie sind gescheitert. "Nein!" Ein Aufschrei entringt sich ihrer Kehle, ihre Stimme hallt in der Finsternis nach. Panisch fährt ihre Hand zu ihrem Hals. Doch da ist keine Kette. Kein Ring. Ein Beben schüttelt ihren Körper. Ihre Knie geben nach und sie fällt zu Boden, vergräbt das Gesicht in den Händen. "Es tut mir leid.", schluchzt sie. "Es... Es tut mir so leid!" Zitternd und schluchzend richtet sie sich schließlich auf. Ihre Kehle ist eng von den Tränen, aber sie wischt sie sich dennoch vom Gesicht. "Ich muss die anderen finden.", flüstert sie heiser und steht mühsam auf. Von der Eleganz ihres Volkes ist nichts mehr zu sehen. Stumme Tränen vergießend geht sie los. Irrt ziellos durch die Dunkelheit, die nur von dem rot-orangenen Schimmer im Osten etwas abgemildert wird. Sie sucht, irrt umher, aber sie weiß, dass sie im Kreis geht. Jeder Schritt kostet sie mehr Kraft und so bleibt sie nach einer Weile völlig erschöpft stehen. "Wo seid ihr? Ihr freien Völker Mittelerdes? Was hat er euch nur angetan?", haucht sie und kann nur mit Mühe das Gleichgewicht halten. Als sie ihr Schwert zieht, zittern ihre Finger so sehr, dass es ihrem Griff fast schon wieder entgleitet. "SAURON!", faucht sie, ihre Stimme ist rau und bricht, so laut schreit sie seinen Namen. So laut, dass es sie schmerzt.
Die Finsternis regt sich nicht. Nichts geschieht. Natürlich nicht. Sauron ist der dunkle König über Mittelerde. Warum soll er sich um etwas anderes als die Unterdrückung seines Reiches und den Ausbau seiner Macht kümmern? Sie weiß, dass er keinen Grund hat. Sie ist gescheitert. Gescheitert, als sie nicht hätte scheitern dürfen. Ein Geräusch in der Ferne lässt sie herumfahren. Ihre scharfen Augen sehen eine dunkle Gestalt in der Ferne, ein verzerrtes, hohes Kreischen durchschneidet die Luft. Ein Nazgûl. Aber er sieht anders aus als die neun Nazgûl, die sie kennt. Kleiner. Viel kleiner. Erkenntnis durchdringt ihre Gedanken und ihr Herz zieht sich zusammen. Sauron hat alle, die er kriegen konnte, in Nazgûl verwandelt. Dieses Wissen schmerzt sie wie tausende von Dolchstichen, sie keucht. Verbietet sich aber, zu schreien. Stattdessen geht sie langsam rückwärts, lautlos, so lange, bis sie den kleinen Nazgûl nicht mehr sehen kann. Vermutlich war er in seinem früheren Leben einmal ein Hobbit gewesen. Denn soweit sie das hat beurteilen können, war dieser Nazgûl sogar noch kleiner als ein Zwerg gewesen. Sie schluckt mühselig und ringt nach Atem. Wieder steigen ihr Tränen in die Augen. "Es ist alles meine Schuld.", haucht sie. "Es ist alles meine Schuld." Jetzt weint sie wirklich, gnadenlose Schluchzer beginnen sie zu schütteln. Hart fällt sie zu Boden, Schmerz schießt durch ihre Sehnen, als sie sich abfängt, am ganzen Körper zitternd zusammenkauert und ihre Tränen fließen lässt. Sie weint, weint und weint. Um Mittelerde. Um die Freiheit. Um ihre Freunde. Denn bestimmt hat Sauron sie zu allererst getötet. Aber warum dann sie nicht? Um sie zu foltern. Weil sie nun mit dieser Schuld, versagt zu haben, leben muss. Bis an das Ende der Welt. Immerhin ist sie unsterblich. Schwärze umrahmt ihr Blickfeld und sie schließt die Augen halb, ihre Atemzüge erreichen kaum noch ihre Lunge. Ist das sterben? Vielleicht. Willenlos lässt sie sich nach hinten auf den Boden sinken. Ihre Zellen schreien nach Sauerstoff, aber sie hat nicht mehr die Kraft, tief genug zu atmen. Versagt. Gescheitert. Sie hat versagt. Sie ist gescheitert. "Es ist alles... meine Schuld.", sie bringt die Worte nur fast lautlos über die Lippen. Flackernd lässt sie ihre Augen vollkommen zu fallen. "Alles... meine Schuld. Nur meine..." Als würde er es spüren, hallt Saurons Lachen durch die Luft. Sie kann seinen Triumph fast schon schmecken: Die Gefährten der Ringträgerin sind tot, ihr eigener Wille gebrochen. Inzwischen hebt und senkt sich ihre Brust fast gar nicht mehr, wenn sie atmet. Das Klirren von Rüstung ist zu hören, doch sie blinzelt nicht. Ihr siebter Sinn verrät ihr die Anwesenheit eines Nazgûl. Nach einem Moment wieder klirren, dieses Mal entfernt es sich. Der Nazgûl geht wieder. Sie lässt den Kopf zur Seite sinken. Ihr Atem ist so flach, dass sie mehrere Atemzüge machen muss, um auch nur ein bisschen Luft zu bekommen. Die schmeckt bitter und nach Verzweiflung, Hass und Tod. Selbst ihr Herz schlägt schon langsamer, stockender, unregelmäßiger, qualvoller. Wenn das hier sterben ist... dann ist es gar nicht so schlimm. Mehr wie ein langsames Versinken in einer weichen, sanften Dunkelheit. Einer tröstenden Finsternis, nicht so kalt und grausam wie jene, die jetzt in Mittelerde herrscht. Eine letzte Träne rinnt ihre Wange hinab. Dann lässt sie sich in die Arme der anderen Finsternis sinken. Diese empfängt sie tröstend und sanft, streicht über ihre geschundene, gesplitterte Seele. Doch kurz, bevor sie sich endgültig verliert, erreicht ein Flüstern ihr Ohr.
"Amina..."
Sie zuckt zusammen, schnappt nach Luft, richtet sich auf und reißt die Augen auf. Diese Stimme würde sie überall erkennen. Von irgendwoher kommt ein letzter Rest Energie, die letzte Flamme ihres Willens, schon fast vollkommen erloschen, flackert wieder auf. Unsicher springt sie auf die Füße. "Legolas?!" Hastig streckt sie ihren siebten Sinn aus und verflucht sich stumm dafür, dass nicht schon früher getan zu haben. Dann macht sie sich sofort auf den Weg. Wie lange sie läuft, so schnell ihr geschwächter Zustand es ihr erlaubt, weiß sie nicht. Nach schier endlosen Jahren bleibt sie wie angewurzelt stehen. Vor ihr liegen die Leichen von Aragorn, Gimli, Boromir und Gandalf. Genauso wie Legolas, nur mit dem Unterschied, dass der Elbenprinz noch lebt. Aber nach dem Blut um ihn herum zu schließen, nicht mehr lange. Mit Tränen in den Augen kniet sie sich neben ihn. "Was ist passiert?", flüstert sie erstickt. "Was glaubst du, kann einen Elben töten?", fragt er zurück. Kurz denkt sie an Orks, verwirft das dann aber wieder. "Sauron?", bringt sie mühsam hervor. "Wer sonst, Amina?", gibt er zur Antwort. Sie schluckt schwer. "Es ist alles meine Schuld.", wispert sie. "Wir... Ich habe versagt." "Stimmt.", lautet die kalte Erwiderung. "Hast du." Entsetzt reißt sie die Augen auf, die ersten neuen Tränen bahnen sich ihren Weg ihre Wangen hinab. "Hass mich nicht.", fleht sie. "Bitte. Hass mich nicht." Er schenkt ihr ein geisterhaftes, verzerrtes Lächeln. "Doch." Sie zuckt von ihm zurück, als hätte er sie geschlagen. "Nein! Bitte!" Jetzt fleht sie ihn wirklich an. "Du warst zu schwach. Sonst wäre der Eine doch zerstört, stimmt es oder habe ich Recht?", seine Frage ist noch eisiger als zuvor. Schmerz verzieht ihre Gesichtzüge. Er hat recht. Natürlich hat er das. "Ich... Ich... Ich weiß.", presst sie hervor und schluckt noch einmal, erstickt fast an ihren Tränen. "Es tut mir leid." Das Licht in seinen graublauen Augen flackert. "Bringt deine Entschuldigung irgendetwas? Sieh sie dir an. Die anderen. Sie sind Sklaven des Finsteren Königs, wie Sauron sich jetzt nennt. Wir haben auf deine Stärke vertraut, wir haben dir vertraut. Und du hast uns im Stich gelassen." Vor Schmerz, Entsetzen und Schuldbewusstsein am ganzen Körper bebend weicht sie von ihm zurück. "Ich weiß.", erwidert sie, ihre Tränen brechen ihre Stimme. Der Waldelbenprinz sieht sie an. "Ich hasse dich.", flüstert er. "Ich hasse dich, Amina, Ringträgerin." Dann erlischt das Licht in seinen Augen und sein Blick richtet sich ins Nichts. Sie schreit auf. "Nein! Nein!" Direkt neben den Leichen derer die ihre Gefährten und Verbündeten, ihre Freunde und mehr als das waren, wirft sie sich zu Boden und schluchzt. Sie kann seine letzten Worte nicht vergessen: Ich hasse dich, Amina, Ringträgerin.

Die Ringträgerin -Die Macht des Einen- || Herr der Ringe FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt