9. Die ungekrönten Könige

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»Alles, Zeit und Liebe,
Luft zum Atemholen,
haben wir gestohlen.
Wir sind Diebe«

- F. Wittkamp

Die Nacht hatte ihren Zenit noch nicht lange überschritten, als mir jemand ein kurzes Messer gegen die Kehle drückte. Das hatte ich nicht kommen sehen. Und das obwohl ich mich dieses Mal an Araziels Rat gehalten, und nur orangenen  und blauen Alkohol zu mir genommen hatte. Nicht, dass dieser einem sonderlich weniger die Sinne vernebelte. Aber wenigstens blieb dabei noch ein gewisser Grad an Kontrolle erhalten. Ich wirbelte gerade völlig entrückt inmitten der tanzenden Menge herum, als ich das kalte Metall an der Haut unter meinem Kinn spürte. Sofort blieb ich stehen. Um mich herum bekam von alledem niemand etwas mit und ein jeder tanzte munter weiter. Verzweifelt hielt ich nach bekannten Gesichtern Ausschau und überlegte, wie ich reagieren sollte. Doch bevor ich die Möglichkeit hatte, etwas Unbedachtes zu tun, erklang eine leise, aber eindringliche Stimme an meinem linken Ohr.

»Tanz einfach weiter«

Mein Blick fiel auf die Hand, die den kurzen Dolch umklammert hielt. Filigrane, definitiv feminine Finger waren in einen schwarzen Samthandschuh gehüllt und hielten die Klinge genau so an meinen Hals, dass niemand außer mir sie sehen konnte. Einen Moment später spürte ich, wie sich von hinten ein schlanker Körper an meinen schmiegte. Langsam begann ich mich langsam wieder zu bewegen und wagte kaum zu atmen. Die wenigen, die sich gewundert hatten, wieso ich plötzlich stehen geblieben war, wandten sich wieder ab. Ich wollte schreien, aber wusste, dass dies der letzte Laut gewesen wäre, der über meine Lippen käme. Mit bloßen Blicken versuchte ich sie auf meine Situation aufmerksam zu machen, aber jeder der uns ansah, erblickte nur ein weiteres tanzendes Pärchen. Schließlich fuhr die unbekannte Stimme fort und ich versuchte nicht auf mein hektisch pochendes Herz zu achten.

»Die Gilde der Diebe übermittelt euch hiermit ihren Gruß. Die ungekrönten Könige erbitten ein Treffen. Noch heute Nacht«

Meine Gedanken rasten, als ich nach einer passenden Antwort suchte. Mein Blut schoss ohrenbetäubend laut durch meine Adern und vertrieb ein wenig der Alkoholschwaden aus meinem Kopf.

»Ich habe für heute bereits eine Verabredung«, versuchte ich möglichst selbstsicher und bestimmt zu klingen.

So gut das eben ging, mit einem Messer an der Kehle. Dabei war das nicht einsam eine Lüge. Seraphine hatte einige Stunden zuvor angedeutet, dass sie heute noch mit Amy und mir sprechen wollte. Und trotz meiner zwiegespaltenen Gefühle ihr gegenüber, konnte ich diese Begegnung kaum erwarten. Würde sie doch vielleicht einige meiner brennendsten Fragen beantworten.

Doch die Frau hinter mir lachte nur leise, dann zischte sie:

»Das ist kein Vorschlag, den man ausschlägt, Junge! Sei während des Feuerwerks am äußeren Stadttor«

Ich schluckte, wobei das Messer sich tiefer in meine Haut drückte und zuckte leicht zusammen, als ich einen stechenden Schmerz spürte. Dann nickte ich langsam. Der Druck gegen meinen Rücken ebbte ab und einen Augenblick später verschwand auch die Klinge von meiner Haut. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die zierliche Gestalt um mich herum tänzelte und ich erhaschte einen kurzen Blick auf meine Angreiferin. Sie trug dieselbe leichte, einfarbige Kleidung und Maskierung wie jede andere Kellnerin und hatte auch sonst kein Merkmal, an der ich sie von den Übrigen hätte unterscheiden können. Von dem Messer war keine Spur mehr zu sehen. Stattdessen blitzte in ihrer Hand etwas gläsernes auf. Meine Augen weiteten sich vor Überraschung, als ich es erkannte und die Kellnerin, die keine war, lächelte schief.

»Ich würde an deiner Stelle dafür sorgen, dass ich rechtzeitig da bin. Wir haben etwas, das ihr vielleicht vermisst«

In ihrer Hand lag eine der kleinen Kugeln, die Daedalus mit flüssigem Feuer gefüllt und als Waffen benutzt hatte. Nur dass in der Ihren keine blaue Flamme, sondern ein weißes, helles Licht loderte. Mit einem Ruck ihres Handgelenks schleuderte sie diese auf den Boden und ich schrie unwillkürlich auf. Hatte ich doch mit eigenen Augen das Ausmaß der Zerstörung gesehen, dass sie anrichten konnten. Plötzlich gab es einen lauten Knall und alles wurde Weiß. Ein hohes Fiepen ertönte in meinen Ohren raubte der Welt ihre Farben. Ich schloss instinktiv meine Augen, doch bunte Punkte tanzten auf dem Schwarz meiner geschlossenen Lider. Als das Piepen leiser wurde, öffnete ich sie vorsichtig wieder und blinzelte ein paar Mal. Langsam hörte ich auf, doppelt zu sehen und auch die Töne kehrten wieder zurück. Die Menschen um mich herum stolperten wirr umher und musterten mich teils mit Angst, teils mit Wut. Schnell bildete sich ein kleiner Kreis um mich und ich blickte fassungslos auf die Stelle auf der die falsche Kellnerin gerade noch gestanden war. Nur ein paar gläserne Splitter auf der grünen Wiese erinnerten noch an ihre Anwesenheit. Ich sah mich noch ein letztes Mal um, dann drehte ich mich um und lief  schnell davon, mitten in die verwirrte Menge um mich herum. Sie hatten Daedalus. Und es war meine Aufgabe ihn zu retten. Während ich auf den Ausgang des gewaltigen Innenhofs des Palasts zustrebte, überlegte ich noch kurz, ob ich Amy von meinem Vorhaben erzählen sollte. Doch sofort verwarf ich diesen Gedanken wieder. Ich würde sie nur in Gefahr bringen, und das war das letzte, was ich wollte. Wer immer diese ungekrönten Könige waren, ich würde sie schon allein überzeugen, den Erfinder frei zu lassen.

Paradise Lost - Das verlorene ParadiesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt